Brüssel, EU-Kommission, Europaparlament
Handshake © European Union 2014 EP
23.10.2014

Die Neue Große Koalition in Brüssel

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Eigentlich kann es im EU-Parlament gar keine klassischen Koalitionen geben. Gesetzesvorschläge kommen von der Kommission – eine Regierung, die eine Mehrheit braucht, gibt es nicht. Trotzdem will Manfred Weber, Chef der konservativen EVP, eine Große Koalition mit den Sozialdemokraten durchsetzen.

Erster Akt: Die Anhörungen

Besonders charmant: der Brite Jonathan Hill © European Union, 2014

Jonathan Hill © European Union, 2014

Es begann mit der Anhörung des britischen Kommissions-Kandidaten (und mittlerweile bestätigten Kommissars) Jonathan Hill. Er soll Kommissar für die Finanzmärkte werden. Hill ist umstritten, hat er früher doch Lobbyarbeit für Finanzunternehmen gemacht und gilt vielen als Freund der zügellosen Zocker der City of London. Seine Anhörung ist die Erste mehrerer teilweise extrem umstrittener Kandidaten.

Alle Kandidaten mussten sich einer Anhörung vor den zuständigen Ausschüssen des EU-Parlaments stellen. Anschließend stimmten die Abgeordneten darüber ab, ob sie ihren Kollegen die Zustimmung zum entsprechenden Kandidaten empfehlen, ob sie mehr Informationen oder eine weitere Anhörung (wie im Fall Hill) verlangen, oder ob sie den Kandidaten oder die Kandidatin für gänzlich ungeeignet halten.

 

 

Zweiter Akt: Der Deal

Eine Woche nach Hills Anhörung, am 08. Oktober stand die Abstimmung über mehrere umstrittene Kandidaten an. Der Grüne Sven Giegold zog damals folgendes Fazit:

„Die Sozialdemokraten haben heute vier große, christdemokratische Kröten geschluckt.“

Mit diesen vier Kröten meinte Giegold:

 

  1. den angesprochenen Jonathan Hill,
  2. den Spanier Miguel Arias Cañete, der Anteile eines Unternehmens der Ölindustrie hatte und Klima- und Energiekommissar werden soll,
  3. den Finnen Katainen (Vizepräsident, Kommissar für Investitionen und Wachstum)
  4. und den Letten Dombrovskis (Vizepräsident, Euro-Kommissar), die beide als marktliberal gelten.

 

Alle vier bekamen das Ja der Sozialdemokraten. Im Gegenzug nahmen die Konservativen dem französischen Sozialisten Moscovici, der Wirtschaftskommissar werden soll, die Pistole von der Brust. Konservative und Sozialdemokraten retteten so all ihre gefährdeten Kandidaten. Nicht nur die Kritiker, sondern auch Jo Leinen von der SPD nennen die Abmachung ganz offen einen Deal.

„Von daher glaube ich, gibt es einen Deal, dass wir eine Juncker-Kommission wollen und jetzt nicht ein Massensterben von Kandidaten veranstaltet haben, sondern die schwächste Person aus unserer Sicht, dann aus dem Feld gekickt haben.“

 

 

Die liberale Slowenin Alenka Bratušek musste so als Bauernopfer herhalten. Sie hatte bei ihrer Anhörung niemanden überzeugt. Und irgendwen musste das Parlament ja schließlich ablehnen, um zumindest anzudeuten, dass die Abgeordneten ein Mitspracherecht haben.

Manfred Weber © European Union 2014 EP

Manfred Weber © European Union 2014 EP

Wäre es nach Fabio de Masi von den Linken gegangen, hätte es dieses Massensterben, von dem Jo Leinen spricht, geben müssen.

„Das gehört zur Politik. Wir sind ja hier nicht ein Verein zum Abnicken, sondern wir haben ein Mandat von den Wählerinnen und Wählern, ihre Interessen zu vertreten. Und diese Kandidaten sind nicht im Interesse der Bevölkerungsmehrheit in Europa.“

So war die Abstimmung viel mehr der erste Auftritt des neuen Bündnisses von Konservativen und Sozialdemokraten. Schon nach der Europawahl im Mai war gemutmaßt worden, dass sich die beiden Fraktionen gegen die EU-Kritiker zusammentun werden. Damals wurde das noch dementiert. Nun schlägt Manfred Weber, der Vorsitzende der konservativen EVP andere Töne an:

„Europa steht in den nächsten fünf Jahren vor der großen Frage, wie wir den Populismus zurückdrängen – in vielen unserer Mitgliedsstaaten – der leider auch im Europäischen Parlament angekommen ist…Antworten können wir nur geben, wenn Sozialisten und die Europäische Volkspartei in einer Großen Koalition zusammenarbeiten.“

 

 

Da ist es, das Wort von der Großen Koalition. Weber spricht von ihrer Geburtsstunde. Genau genommen kann es eine Koalition in Brüssel gar nicht geben, denn es gibt keine EU-Regierung, die im Parlament eine Mehrheit braucht. Mehrheiten finden sich hier zu allen Themen neu, Fraktionen stimmen nicht zwangsläufig geschlossen ab.

„Wer einen Blick auf die Zusammenstellung des heutigen Europäischen Parlamentes wirft, der sieht, dass es ohne die Zusammenarbeit zwischen den Sozialdemokraten und der Europäischen Volkspartei keine verantwortbare Mehrheit gibt im Europäischen Parlament. Deswegen sind wir ein Stück weit gezwungen zu dieser Zusammenarbeit.“

 

 

Verantwortbare Mehrheit heißt in Webers Sprachgebrauch: Ohne Linke und ohne rechte EU-Kritiker. Udo Bullmann, Chef der deutschen Sozialdemokraten in Brüssel, hält wenig von Webers Projekt „GroKo“.

„Na wenn der Kollege sich da mal nicht verhoben hat, mit diesem Bild. Ich glaube, Kollege Weber muss nachzählen. Dann wird er sehen, selbst wenn das sein Wunschbild ist, das wird uns nicht tragen. Das Haus kennt die Tradition der Zusammenarbeit in jedem einzelnen Stück der Gesetzgebung. Diejenigen, die das nicht verstanden haben, sollen einfach nachzählen: EVP und Sozialdemokraten – selbst wenn sie wollten – machen auf Dauer keine Mehrheit.“

 

 

Zählen wir also einmal nach: Für eine einfache Mehrheit im Parlament werden 376 Stimmen benötigt. Konservative EVP und Sozialdemokratische S&D haben zusammen 411 Stimmen. Hielten sich alle Abgeordneten an einen Fraktionszwang, würde das also reichen. Wie gesagt, wenn…

SPD-Mann Jo Leinen drückt sich deshalb auch sehr vorsichtig aus:

„In den großen Fragen können Sie das so nennen: Große Koalition zur Wahl des Kommissionspräsidenten. Also ich glaube nicht, dass in der Gesetzgebung sich in der neuen Periode viel ändert zu dem, was wir bisher hatten.“

 

Dritter Akt: Die Abstimmung

22.10. im EU-Parlament in Straßburg: Es geht um den Haushalt und um die neue Kommission. Auch wenn es einige Abweichler gibt: Sozialdemokraten und Konservative sind in allen Abstimmungen auf einer Linie. Jean-Claude Juncker erhält – nach dem schwarz-roten Deal – die endgültige Zustimmung des Parlaments für seine Kommission. Für den Moment steht die neue Große Brüsseler Koalition.

Hat sie auch weiterhin Bestand, kann Jean-Claude Juncker auf das Parlament bauen und muss wenig Gegenwind für seine Projekte erwarten. Die großen Probleme wie Jugendarbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit anzugehen, mag das leichter machen. Der Demokratie und damit der Begeisterung für Europa erweist die Große Koalition aber einen Bärendienst.

 

Mehr zum Thema erfahren Sie auch im DLF-Magazin am 23.10. um 19:15 Uhr im Deutschlandfunk.