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Sie sind wieder an ihrem Platz, die an die europäischen Außengrenzen "entführten" Mauertoten-Kreuze. (c) Stephan Detjen / Deutschlandradio Hauptstadtstudio
Sie sind wieder an ihrem Platz, die an die europäischen Außengrenzen "entführten" Mauertoten-Kreuze. (c) Stephan Detjen / Deutschlandradio Hauptstadtstudio
12.11.2014

Norbert Lammert, die Kreuzräuber und der Drachentöter

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Das Gedenken rund um den 9. November sorgte für einige Diskussionen. Wie viel Provokation ist angemessen? Wie viel notwendig? Dies und die europäische Dimension beschäftigen Stephan Detjen.

Auf dem Weg in unser Berliner Studio, zwei Tage nach dem großen Lichterfest zum Gedenken an den Mauerfall: auf der anderen Spreeseite hängen vor dem Reichstagsgebäude wieder die sieben weißen Kreuze, die dort an die Mauertoten erinnern. Ein Polizeiboot schippert vorbei. In der Nacht vom 2. zum 3. November hatte (ein paar Schritte vor einem der am besten bewachten Gebäude des Landes!) niemand bemerkt, wie die Kreuze abmontiert wurden. Erst danach meldet sich die Künstlergruppe „Zentrum für politische Schönheit“ zu Wort und erklärt den Kreuzraub zur politischen Kunstaktion. Sie publiziert Fotos von Afrikanern mit täuschend ähnlichen Nachbildungen der Kreuze und erlaubt sich einen drastischen Scherz: die Kreuze seien über die „militärischen Abriegelungen“ der EU-Außengrenzen zu den „zukünftigen Mauertoten“ geflüchtet, heißt es in der Unterzeile. Die umstrittene Aktion blieb nicht die einzige Provokation im Umfeld des Mauergedenkens.

Biermann diskreditiert demokratische Wahl – Lammert schweigt

Bundestagspräsident Norbert Lammert fand in seiner Eröffnungsrede zur Gedenkstunde am Freitag, man müsse die Kreuz-Aktion für „blanken Zynismus“ halten. Doch nach diesem Gedenkwochenende mit seinen unzähligen Reden, Sonderprogrammen auf allen Kanälen und dem großen Lichterspektakel am Sonntagabend finde ich noch mehr Gründe als zuvor, das anders zu sehen. Das hat auch mit der anderen Provokation zu tun, die unmittelbar auf Lammerts Rede folgte. Der Bundestagspräsident hatte da nämlich kein Problem mehr damit, die derben Überspitzungen hinzunehmen, mit denen sich der als Festmusikant geladene Wolf Biermann über einen Ordnungsruf Lammerts hinwegsetzte. Unter dem feixenden Gelächter einer Neun-Zehntelmehrheit machte er eine Oppositionspartei nieder, die in diesem Augenblick tatsächlich auf ein wehrloses Häuflein zusammengeschrumpft wirkte. Viele Mitglieder der schwarz-rot-grünen Mehrheit hatten ihre helle Freude daran. Spätestens jedoch, als sich Biermann in seinem verbalen Siegesrausch dazu verstieg, den Linken mit unmissverständlichem Hinweis auf die NSDAP ihre demokratische Legitimation abzustreiten, hätte Lammert ein zweites Mal intervenieren müssen. „Gewählt! Im Deutschen Bundestag kann man doch nicht erzählen, dass ’ne Wahl ein Gottesurteil ist, wenn man die deutsche Geschichte kennt“, hatte Biermann auf einen Zwischenruf von links erwidert. Und der Präsident des Deutschen Bundestages schwieg.

Damit es keine Missverständnisse gibt: ich habe Biermann immer zutiefst verehrt und tue das noch heute. Sein Lied von der „Ermutigung“, das er am Freitag dann doch noch sang, geht mir an Herz und Verstand wie kaum ein anders. Wer Biermann kennt, weiß, dass er sich sein Publikum immer auch als lebendiges Gegenüber in Streit und Diskussion sucht. Ich erinnere mich, wie ich 1976 als elfjähriges Kind gebannt bis in die späte Nacht am Radio (Deutschlandfunk, Mittelwelle) hing und sein legendäres Konzert in der Kölner Sporthalle hörte. Man kann heute auf der Konzert-CD nachhören, wie Biermann, schon damals der bessere Linke, den lautstarken Streit mit der ganzen bunten Vielfalt der westdeutschen Linken führte. Nach fast jedem Lied bekommen sich der Sänger und seine Zwischenrufer über Marx, sowjetische Panzer und die italienischen Eurokommunisten in die Haare [„Die BRD/braucht eine KP (Applaus von den Einen)/ wie ich sie unter Italiens Sonne seh“ (Zwischenrufe, Applaus von den Anderen)].

Hätte Norbert Lammert den Mut gehabt, den ihm seine Parteifreunde mit Blick auf seinen Biermann-Coup nachträglich zuschreiben, hätte er sich auf die Diskussion mit seinem Gast eingelassen. Zumindest die Diskreditierung eines demokratischen Wahlergebnisses hätte Lammert gerade vor dem 9.November nicht widerspruchslos hinnehmen dürfen.

Mauern damals und heute: die Schwierigkeit, das Offenkundige zu sehen
Doch die feierliche Stimmung sollte an diesem ganzen Wochenende nicht getrübt werden. Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer ist das Parlament nicht souverän genug, auch einem Helden des Widerstandes gegen die kommunistische Diktatur die Grenzen parlamentarischer Streitkultur aufzuzeigen. Damit sind wir auch wieder bei den Mauerkreuzen. Denn zugleich sind wir offenkundig auch noch nicht frei genug, den provokanten Fingerzeig auf das zu ertragen, was doch ganz offenkundig ist: dass die Bilder der Sperranlagen in Nordafrika in bedrückender Weise an die Grenzanlagen im einstigen Deutschland erinnern. Man muss beides damit ja nicht gleichsetzen. Aber man kann sich sehr wohl der frappierenden Ähnlichkeit dieser Mauern und Zäune aussetzen, um dann zu fragen, wo die Unterschiede liegen. Und man muss das Glück des Freiheitsgewinns von 1989 nicht einschränken, wenn man zugleich mit Blick auf das Elend der Flüchtlinge und Armutsmigranten in Südeuropa daran erinnert, welches Privileg damit verbunden ist. Diese Feststellung wiederum könnte ein Beitrag zu der Debatte über die internationale Verantwortung eines Landes sein, das sich an diesem Wochenende über das unfassbare Glück freuen durfte, das ihm am Ende eines über weite Zeiten düsteren 20. Jahrhunderts zu Teil wurde.

Solche Aktualisierungen des Jahres 1989 aber scheinen auch nach 25 Jahren keinen Resonanzraum zu finden. Das mag daran liegen, dass die Monstrosität der Mauer auch damals erst mit Verzögerung in den Blick der friedlichen Revolution geriet. In den Gründungsaufrufen der rasant wachsenden Oppositionsgruppen (Neues Forum, Demokratischer Aufbruch, Demokratie jetzt) ging es um Wahlen, demokratische Teilhabe und den Umweltschutz. Die Mauer aber, die augenfälligste Manifestation der Unterdrückung, wurde in keinem der Dokumente erwähnt. Reagans Satz „Mr. Gorbachev, tear down this wall!“, hatte 1987 so stark und sprichwörtlich befreiend gewirkt, weil er das offenkundige aussprach. „Für uns schien eine solche Forderung im Sommer 89 einfach zu unerfüllbar und irreal“, erklärte mir eine der bewundernswertesten Vorkämpferinnen der friedlichen Revolution am Sonntag bei einem Zeitzeugengespräch in der Gedenkstätte an der Bernauer Straße. Erst als die Protestbewegung auf den Straßen von Plauen, Leipzig und Berlin zur Massenbewegung anschwoll, wurde der Ruf nach Reisefreiheit zu einer Zentralforderung der Revolution. Auf die Frage, ob sich ihr Blick auf die damaligen Ereignisse in den vergangenen 25 Jahren verändert habe, sagte mir die ehemalige Bürgerrechtlerin am Sonntag, die europäische Dimension der damaligen Ereignisse sei ihr erst im Laufe der Zeit bewusst geworden. Sie meinte damit freilich nicht die Gegenwart Europas, sondern die wechselseitigen Verbindungen zwischen den damaligen Entwicklungen in der DDR und den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks.

Den Blick in der radikalen Weise der Berliner Kreuzräuber auf das Faktum von Mauern und Grenzen in unserer Zeit zu lenken fällt vielleicht auch deswegen so schwer, weil auch die Berliner Mauer selbst erst langsam wieder ins Bewusstsein zurück geholt werden musste. Die Berliner hatten sich der Mauer mit der Gründlichkeit ihrer Stadtreinigung entledigt. Wie vor 25 Jahren war es der Druck auf der Straße, der Stadt und Staat dazu drängte, die Erinnerung an die Mauer wieder stärker zu akzentuieren. Die Menschen – Touristen aus aller Welt wie jüngere Berliner – waren schließlich in Scharen durch die Stadt geirrt, um den einstigen Verlauf der Mauer zu ergründen. Die meisten, zuletzt 850.000 jährlich, landeten am Checkpoint Charlie, wo eine privatwirtschaftliche Erinnerungsindustrie das Mauergedenken kommerzialisierte. Es war (einfach nur Ironie der Geschichte?) ein linker Kultursenator, Thomas Flierl, unter dessen Verantwortung schließlich ein Gedenkkonzept entstand, dass die Bernauer Straße in den Mittelpunkt einer öffentlich geförderten und verantworteten Erinnerung rückte. Am Sonntag hat Angela Merkel dort die neue Dauerausstellung eröffnet.

Zwei unzeitgemäße Provokationen

 Lichtgrenze 9. November 2014 (c) Frank Capellan / Deutschlandradio Hauptstadtstudio

Lichtgrenze 9. November 2014, gesehen vom Balkon unseres Hauptstadtstudios  (c) Frank Capellan / Deutschlandradio Hauptstadtstudio

Die Ausstellung in der Bernauer Straße richtet sich ebenso wie das Gedenken am Wochenende an zwei Generationen: an die mittlerweile Älteren, die die Mauer erlebt, erlitten und schließlich zum Einsturz brachten. Und an die Jüngeren, denen die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern so nahe gebracht werden soll, wie sie sie einst selbst erlebt haben und bis heute weiter erzählen. Das Narrativ der anerkannten Zeitzeugen – der Bürgerrechtler, Oppositionellen und Stasi-Opfer – wird zum Kanon der politischen Geschichtserzählung. Deshalb durfte Biermann im Bundestag nicht nur singen, sondern auch reden, als wäre die Zeit 1976 stehen geblieben. „Das Reden habe ich mir in der DDR nicht abgewöhnt und werde es hier schon gar nicht tun“, hielt er Lammert nach dessen Hinweis auf die Geschäftsordnung entgegen. Mit einem Satz hob er damit die ganze zeitliche Distanz von 25 Jahren auf, aus denen der Bundestag auf das Jahr 1989 zurückschauen wollte. Seine Attacke auf die Linken, in denen er nichts als den „elenden Rest“ der SED erblicken wollte, war keine Reflektion, sondern ein aus der Zeit gefallener Reflex.

So unzeitgemäß Biermann als Widergänger aus einer vergangenen Zeit auftrat, so unzeitgemäß griff die Aktion der Kreuzräuber einer Zukunft vorweg, die erst nach einem weiteren Generationenwechsel zur Gegenwart werden wird. Dann wird der Rückblick auf die Mauer gar nicht mehr möglich sein, ohne zugleich daran zu erinnern, dass die Welt auch nach dem Jahr 1989 von Mauern, Stacheldrahtzäunen und befestigten Grenzstreifen durchzogen war – an den Rändern Europas, im Nahen Osten, in Amerika.

Man konnte die Perspektiverweiterung durch den Ablauf der Zeit zuletzt beim Generationenwechsel an der Spitze des Bundes der Vertriebenen beobachten: mehr als 60 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges nimmt die künftige Gedenkstätte des Vertriebenenverbandes nicht nur das Schicksal der Deutschen, sonder das von Flucht- und Vertreibungsopfern in unterschiedlichen Epochen und Erdteilen in den Blick. Erst in dieser Relativität erhält die Geschichte ihre gegenwärtige Aktualität. So wird eines Tages auch das Mauergedenken nicht mehr verständlich sein, wenn es nicht zugleich auch die Unterschiede und Parallelen von Grenzen in einer nach wie vor von Grenzen durchzogenen Welt zum Thema macht.

Kommentare zu diesem Beitrag (1)

  1. Reiner Stock | 20. November 2014, 16:31 Uhr

    Norbert Lammert

    Ich war am 07. Nov. 2014 per DLF LW 153 live im Plenarsaal im deutschen Bundestag und habe die Gedenkveranstaltung mitverfolgt. Ich war empört, wie die demokratisch legitimierte stärkste Oppositionspartei im PLENARSAAL des deutschen Bundestages öffentlich derart übel diskreditiert wurde. Das war das reinste Mobbing auf Regierungsebene, da es kommentarlos vom Präsidium und vom Bundestagspräsidenten geduldet wurde. Ich habe mich bereits als mündiger Staatsbürger über diese böswillige Entgleisung bei dem Fraktionsvorsitzenden der Partei die Linke, Herrn Dr. Gregor Gysi beschwert, und erwarte eine Rechtfertigung von Herrn Lammert.