Berlin, Brüssel, Medien 11.02.2015

Was kommt nach der „letzten Chance“?

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Das Gipfeltreffen in Minsk – der sogenannte Friedensgipfel – ist die letzte Chance auf Frieden in der Ostukraine. So haben uns Politiker und Journalisten in den vergangenen Tagen die Welt erklärt. Unser Korrespondent Thomas Otto fragt sich, woher auf einmal diese „letzte Chance“ kommt, warum plötzlich alle davon sprechen und was passiert, sollte die „letzte Chance“ vergeben werden. Ein Kommentar.


 

Sprache ist Macht. Wie wir welche Worte nutzen, ist Zeichen dafür, wie wir denken. Und welche Worte wir jeden Tagen lesen und hören, beeinflusst wiederum, wie wir selbst denken. Werbung versucht jeden Tag, das zu beeinflussen. In der Politik ist das nicht anders. Der Linguist Martin Haase und der Journalist Kai Biermann beschäftigen sich auf ihrem Blog neusprech.org mit genau diesem Prinzip:

„George Orwell propagierte in seinem Buch 1984 gar die Möglichkeit, durch „Neusprech“, durch gezielte Wortschöpfungen, das Denken selbst zu beeinflussen.“ (Quelle: „Über das Blog“ auf neusprech.org)

„Widerrufliche Gratiseinwilligung“, „Extralegalität“ oder „geringfügige Beschäftigung“ – Die beiden Autoren analysieren, wie Politik Sprache benutzt um Wahrheiten zu verstecken, Dinge zu beschönigen oder Botschaften zu platzieren. In den vergangenen Tagen ist solch eine neue Kreation in der politischen Kommunikation aufgetaucht, die

„letzte Chance“

Schon am vergangenen Freitag sagte der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, im Interview mit dem Deutschlandfunk:

„Ich denke, dies ist ein enorm wichtiger, aber vielleicht auch ganz entscheidender, vielleicht letzter Versuch, doch noch Minsk, also die diplomatische Lösung auf den Weg zu bringen […].“

Am Samstag sprach der französische Präsident François Hollande davon, die geplanten Gespräche in Minsk seien der „letzte Weg“, um einen Krieg zu verhindern.

Und auch in der EU ist die Formulierung angekommen, beispielsweise beim im EU-Parlament schäumenden Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Elmar Brok:

 

 

Wer das Wort von der nun wirklich letzten Chance zuerst in den Mund genommen hat, das konnte ich nicht herausfinden. Von Journalisten wurde die Formulierung aber sofort dankbar aufgegriffen. Fast noch zaghaft die häufig verwendete Kombination mit Fragezeichen:

auf tagesschau.de:

Screenshot: http://www.tagesschau.de/ausland/ukraine-kaempfe-123.html

Screenshot: http://www.tagesschau.de/ausland/ukraine-kaempfe-123.html

 

Schon deutlicher bei sueddeutsche.de:

Screenshot: http://www.sz-online.de/nachrichten/letzte-chance-am-runden-tisch-3035409.html

Screenshot: http://www.sz-online.de/nachrichten/letzte-chance-am-runden-tisch-3035409.html

 

Und ganz schlicht die Berliner Morgenpost:

Screenshot: http://www.morgenpost.de/printarchiv/politik/article137327783/Letzte-Chance.html

Screenshot: http://www.morgenpost.de/printarchiv/politik/article137327783/Letzte-Chance.html

 

Mit kreativer Abwandlung beteiligten sich auch telepolis:

Screenshot: http://www.heise.de/tp/artikel/44/44100/1.html

Screenshot: http://www.heise.de/tp/artikel/44/44100/1.html

 

und Zeit Online:

Screenshot: http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-02/angela-merkel-usa-besuch-barack-obama-treffen-ukraine

Screenshot: http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-02/angela-merkel-usa-besuch-barack-obama-treffen-ukraine

 

Minsk ist also die/der letzte Chance/Versuch/Hoffnung auf Frieden in der Ukraine. Und wenn Minsk scheitert, was dann? Muss es dann Krieg geben, denn das haben ja alle so gesagt und überall geschrieben? Mir stellt sich die Frage, warum so viele Journalisten diese Formulierung übernehmen. Ob es sich wirklich um die letzte Chance auf Frieden handelt, ist keineswegs eine Frage, die man mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten kann – zu viele Einflussfaktoren hängen daran. Vielmehr wird mit der immer und immer wieder erneuerten Betonung der „letzten Chance“ das Treffen erst zu dieser gemacht.

Wozu? Ich weiß es nicht. Vielleicht um so mehr Druck auf Russland zu machen. Vielleicht um die Bevölkerung stärker hinter der eigenen Politik zu versammeln und sie – falls nötig – schon mal auf einen größeren militärischen Konflikt (oder erst einmal auf Waffenlieferungen) vorzubereiten? Nach dem Motto: Russland hat die letzte Chance nicht genutzt, nun sind wir dazu ja gezwungen? Mit Sicherheit bewirkt es eines: Zumindest in der Bewertung dessen, was das Treffens in Minsk bedeutet, sind sich alle einig.

Würden all diejenigen, die jetzt das Wort von der „letzten Chance“ in den Mund nehmen, tatsächlich einen Krieg mit Russland befürworten, sollte es in Minsk nicht zu einem Minimalkonsens kommen? Schwer vorstellbar. Eine nun wirklich allerletzte Chance existiert – rein sprachlich betrachtet – aber nicht. Sollte es die für eine friedliche Lösung brauchen, hoffe ich sehr, dass es sie trotzdem geben wird.