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Reichstag / Foto: Ansgar Rossi
22.04.2015

Flüchtlingskatastrophe: Vorbild Atalanta?

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In der Diskussion um Konsequenzen aus den dramatischen Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer, über die der Bundestag am Nachmittag debattiert, hatte am Montag die EU-Kommission mögliche Militäreinsätze auch an Land nach dem Vorbild der Anti-Piraterie-Mission Atalanta in die Diskussion gebracht. Ein heikler Vorschlag.

Schlepper- und Schleuserkriminalität soll bekämpft werden, darin sind sich Innen- und Außenminister einig. Diese Profiteure des Elends, die Flüchtlinge gegen Bares zu Hunderten auf kaum seetauglichen Seelenverkäufern auf das Mittelmeer schicken, sind jedoch alles andere als leicht zu erwischen – halten sie sich doch im Regelfall jenseits des Zugriffsbereichs der EU-Staaten auf.

Die meisten der nun in Medienberichten genannten Boote verlassen die Küste Libyens – eines ‚failing states‘, der nach dem Sturz Muammar al Gaddafis und seiner Diktatur im Jahr 2011 unter kräftiger Mitwirkung Frankreichs, der USA und Großbritanniens, ein Stat, der gleich mehrere Regierungen und eine Vielzahl ethnisch-tribaler Konflikte und regionalpolitischer Stellvertreterkonflikte aufweist und der kaum den Eindruck macht, dass er in den kommenden Jahren spontan zum Friedensanker in der Region mutiert.

Da mutet es erstaunlich an, dass in dem offiziellen Erklärdokument des Europäischen Rates zu lesen ist, dass „disruption of pirate logistical dumps“, also ein Vorgehen gegen die Logistikstrukturen der Piraten ein Vorbild sein soll:

DPLDs have also been welcomed by Somalia’s Transitional Federal Government as well as federal entities, such as Puntland and Galmudug. These focused operations on pirate logistic dumps are aimed at denying pirates impunity ashore and a secure base to launch attacks at sea, thus increasing costs and decreasing their capability. Putting pressure on their business model by destroying their boats and eliminating their fuel dumps will make life more difficult for the sponsors of piracy and the pirates themselves.

Vergleicht man den Einsatz vor Somalia mit den Möglichkeiten vor Libyen, stellt man fest: die Zerstörung von Booten an Land wäre wohl tatsächlich eine Möglichkeit. Eine Zerstörung der Boote nach ihrer Ankunft in der EU oder nachdem sie auf hoher See aufgebracht wurden, das dürfte vor Libyen kaum vergleichbar sein – denn die Boote sind schon heute nicht auf Rückkehr ausgelegt, anders als die Piratenschiffe vor Somalia. Zudem: anders als vor Somalia gibt es logischerweise keine Kombination aus Mutterschiffen vor der Küste und schnellen Booten zum Überfall. Häufig genug wird berichtet, dass die Schlepper entweder gar nicht oder nur für kurze Zeit mit an Bord der Boote gehen. Dass in Libyen, einem ölreichen und selbst auch mit Raffineriekapazitäten ausgestatteten Land die Zerstörung von Treibstoffvorräten den identischen Effekt wie in Somalia haben kann, ist zudem ebenfalls eher fraglich.

Unklar ist, ob sich mit den verschiedenen Akteuren und Regierungen in Libyen und den Küstenregionen Tripolitanien und Kyrenaika eine Vereinbarung zur Bekämpfung von Schleuserkriminalität an Land treffen ließe – und ob und wie diese dann durchführbar wäre. Denn spätestens wenn ein einziger europäischer Soldat in die Hände von Kämpfern unter IS-Flagge fallen sollte, würden die europäischen Staaten auch in die innerlibyschen Konflikte noch weiter hineingezogen werden.

Ob also die Formel „von Atalanta lernen“ wirklich eine Option ist, das scheint derzeit also noch höchst offen. Und ob den Flüchtlingen geholfen ist, wenn ihre Reise sodann in Libyen oder den Nachbarstaaten endet, ist schon seit Jahren mindestens fraglich – für Europa und seine Politiker jedenfalls wäre das Problem dann vorerst wieder weniger sichtbar.