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Kanzleramt am Morgen (c) Ansgar Rossi
Kanzleramt am Morgen (c) Ansgar Rossi
17.05.2015

Koalition: Sollbruchstelle Selektoren?

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Es ist ein gefährliches Spiel, auf das die Koalition gerade spielt: Sigmar Gabriel gibt öffentlich bekannt, dass die Kanzlerin ihm zweimal zugesagt habe, dass die NSA keine Industriespionage betreibe. Die Union weist diesen Verdacht insgesamt zurück. Beides ist erstaunlich.

Aus der etwas schnarchigen Dauerbaustelle NSA-Affäre ist eine veritable Koalitionskrise geworden, seitdem der Vizekanzler die Kanzlerin beim Wort nahm – und das öffentlich machte. Und all das, weil der Bundesnachrichtendienst die Selektoren, die Ziele, die die NSA ihm mehrfach täglich übermittelt, nicht gründlich genug geprüft haben soll. Mehrere Millionen Zielbeschreibungen sind das, mehrere zehntausend davon hatte der BND seit 2003 aussortiert, weil sie gegen deutsche Interessen verstießen. Doch zehntausende weitere scheinen dabei auf jeden Fall durchgerutscht zu sein, zehntausende Selektoren, die im August 2013 – fast zeitgleich zu Ronald Pofallas No-Spy-Versprechungen – ein Mitarbeiter in Pullach fand und auf eine Giftliste schrieb. Und auch der Zeuge, Herr Dr. T., ging in einer Zeugenanhörung im NSA-Untersuchungsausschuss vor eineinhalb Wochen nicht davon aus, dass er alles gefunden habe. Seine Treffer wurden auf die Sperrliste des BND in Bad Aibling geschrieben.

Kein Politiker weiß, was auf der Liste ist

Klar ist: kein deutscher Politiker, egal ob Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremiumg, im NSA-Untersuchungsausschuss, auch kein Verfassungsschutzpräsident – immerhin für die Spionageabwehr zuständig – hat die Selektorenlisten bislang zu Gesicht bekommen. Und auch die Sperrliste des BND nicht, die die aussortieren NSA-Selektoren enthält. Beides gilt als Dokument, das von einem ausländischen Nachrichtendienst stammt. Und deshalb – so die Interpretation des zuständigen Bundeskanzleramtes – müsste die US-Seite einer Weitergabe an Dritte, außerhalb von NSA und BND, erst zustimmen, was die Bundesregierung wohl auch angefragt hat. Doch die offizielle Antwort der US-Seite fehlt bislang. Die Opposition und auch Teile der SPD sagen nun: egal, die Bundesregierung muss nun eine eigene Entscheidung treffen. Immerhin seien auf jeden Fall die Sperrlisten des BND kein US-Dokument im eigentlichen Sinne, auch die übergebenen Suchbegriffe sind zumindest beim BND im Einsatz und damit ist es überaus diffizil, von US-Dokumenten auszugehen.

Niemand fordert eine Veröffentlichung

Parlamentarier fordern, dass die zuständigen Parlamentsgremien Einblick nehmen dürfen müssen. Und zwar möglichst in die Gesamtliste, weil gar nicht klar ist, was sich darin noch alles versteckt. Eine Veröffentlichung allerdings, wie oft gesagt wird, hat bis dato niemand gefordert – es geht wohl eher um eine geregelte Einsichtnahme in der Geheimschutzstelle des Bundestages, im Bundeskanzleramt oder im BND. Nur: wenn sich darin wirklich Brisantes findet, wird darüber mit Sicherheit anschließend öffentlich diskutiert. Was der US-Seite kaum Recht sein dürfte.

Derzeit gilt: Es wird viel geraunt, doch welche Suchbegriffe jenseits der in alten Akten von etwa 2005 aufgeführten „EADS, Eurocopter und französische Behörden“ tatsächlich im Fadenkreuz der NSA und auf ihrer Zielliste stehen, ist nicht klar. Auch die Frage, ob die Ziellisten nur in der Satellitenaufklärung oder auch bei Eikonal und anderen Kabelausleitungsprojekten zum Einsatz kamen, ist noch nicht abschließend und eindeutig geklärt (und wenn ja, was als wahrscheinlich gilt, wie viel dann wohin ging).

Es geht um die Glaubwürdigkeit

Wenn sich Politiker derzeit zu definitiven Aussagen hinreißen lassen, was auf den Selektorenlisten enthalten sei oder nicht, dann ist das jedoch Harakiri. Weshalb Gabriels Zug, die Kanzlerin öffentlich an ihren nichtöffentlichen Worten messen zu lessen, die Union auch derart in Erregung versetzt: gesichertes Wissen ist in diesen Tagen noch Mangelware und schwer zu erlangen. Doch Glaubwürdigkeit, die ist einfach zu zerstören – und zwar, in dem jetzt Dinge ausgeschlossen werden, ohne dass man wirklich sicher sein kann, dass das richtig ist.

Nachdem sich die Kanzlerin und ihre Vertrauten angesichts der Debatte um „Die NSA hat schriftlich versichert, sich auf deutschem Boden an deutsches Recht zu halten“ (Pofalla, 12.08.2013) und „Es wird ein No-Spy-Abkommen geben“ (Steffen Seibert, 14.08.2013) rechtfertigen müssen, vielleicht gelogen oder nicht die volle Wahrheit gesagt zu haben oder zumindest naiv gewesen zu sein, scheint zum ersten Mal nachhaltig die Frage im Raum zu stehen: Wird die Bevölkerung von Angela Merkels Umfeld, vielleicht sogar von Ihr, angelogen?

Genau für diese Frage grundsätzlichen Vertrauens hat Sigmar Gabriel öffentlich die Latte hochgelegt. Ob Merkel sie reißen wird, dürfte sie selbst noch kaum wissen. Wenn nicht, steht Sigmar Gabriel am Ende jedoch kaum schlechter da denn zuvor.