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Auf Deutsch wird in Pristinas Fußgängerzone um Kunden geworben. Foto: Thomas Otto
Auf Deutsch wird in Pristinas Fußgängerzone um Kunden geworben. Foto: Thomas Otto
13.06.2015

Kosovo: Deutsche Qualität und nackte Beine

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Tausende Kosovaren haben sich Ende vergangenen/Anfang dieses Jahres auf den Weg in die EU gemacht und vor allem in Deutschland Asyl beantragt. Damit ist Europas jüngster Staat (der nur von 23 der 28 EU-Mitgliedern als solcher anerkannt wird) wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Unser Korrespondent Thomas Otto war auf einer Pressereise in der kosovarischen Hauptstadt Priština. Er hat ein Land erlebt, in dem die Menschen die EU wollen und sie gleichzeitig ablehnen.

Flucht vor der Armut

Priština, Hauptstadt des Kosovo. Ein kleiner Junge, vielleicht gerade einmal acht Jahre alt, steht an einer Kreuzung und wartet auf Kundschaft. Ein Bus hält und der Junge macht sich sofort ans Werk, die Windschutzscheibe zu putzen. Vom Fahrer erhält er dafür ein paar Münzen und ein High five. Der Junge freut sich sichtlich. Nicht nur über die Geste des Busfahrers, sondern vor allem über die wenigen Eurocent, die er damit verdient hat. Wenige Meter daneben sucht ein alter Mann in Mülltonnen nach Verwertbarem. In der angrenzenden Fußgängerzone werden Erdbeeren und Kirschen aus dem eigenen Garten verkauft. Jeder versucht hier irgendwie, an etwas Geld zu kommen. Das Land ist extrem arm.

 

Fußgängerzone in Priština: Auf den Bänken im Schatten warten private Händler auf Kunden. Foto: Thomas Otto

Fußgängerzone in Priština: Auf den Bänken im Schatten warten private Händler auf Kunden. Foto: Thomas Otto

Gerade einmal 350 Euro verdient ein Kosovare im Schnitt – wenn er Arbeit hat. Die Arbeitslosigkeit soll bei 40 Prozent liegen, unter Jugendlichen sogar bei 70 Prozent. Und die machen die Mehrheit dieser extrem jungen Gesellschaft aus: Knapp zwei Drittel der Menschen sind hier unter 30 Jahren alt.

Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektiven sollen ein Grund dafür gewesen sein, dass sich tausende Kosovaren auf den Weg in die EU gemacht haben – vor allem nach Deutschland – um dort Asyl zu beantragen. Zur Hochzeit der „Fluchtwelle“ im Februar verließen etwa 1.000 Menschen am Tag das Land. Mittlerweile ist diese Migrationswelle abgeflaut. Wohl auch, weil sich herumgesprochen hat, dass ein Asylantrag kaum Chancen auf Erfolg hat.

Deutsch heißt Qualität

Wir Journalisten sollen erfahren, was die EU im Kosovo tut und wie sich das Land entwickelt. Die EU-Kommission hat deshalb 14 Journalisten aus der ganzen Union eingeladen, sich selbst ein Bild vor Ort zu machen.Und das wird schon bei der Fahrt vom Flughafen in die Stadt geprägt. Deutschland steht für Qualität und ist generell positiv belegt. Anders sind die vielen Verweise auf Deutschland nicht zu erklären. Immer wieder fallen Transporter mit deutschen Schriftzügen von Handwerks- und Transportfirmen auf. Der TÜV hätte diese Fahrzeuge schon lange stillgelegt. Mit dem Export ins Kosovo erhalten sie hier ein neues Leben. Die alten Werbeschriftzüge bleiben einfach dran.

 

Eine kosovarische Supermarktkette mit verdächtig bekannter Farbgebung. Foto: Thomas Otto

Eine kosovarische Supermarktkette mit verdächtig bekannter Farbgebung. Foto: Thomas Otto

„Holzfußboden“, „Garagentor“ und „Reisebüro“ gehören nicht zum albanischen Wortschatz (Amtssprache, über 90% der Kosovaren sind ethnische Albaner), sind aber immer wieder auf Werbetafeln zu lesen. Und die meisten Kosovaren verstehen auch, was damit gemeint ist. Während des Kosovokrieges 1998/99 fanden viele Kosovo-Albaner in Deutschland Asyl. Unterlegt mit Schwarz-Rot-Gold wird so gern die örtliche Reklame aufgepeppt. Hat etwas mit Deutschland zu tun? Muss gut sein!

Ethnische Konflikte

Einer unserer Ausflüge führt uns in die serbische „Insel“ Gračanica. Albanische Flaggen, wie wir sie im wenige Kilometer entfernten Priština noch überall gesehen haben, gibt es hier keine – dafür serbische. Neben den Gebieten im Norden, an der Grenze zu Serbien, ist Gračanica einer der Orte im Kosovo, die größtenteils von Serben bewohnt werden. Wir besuchen das dortige Kloster mit der unter UNESCO-Schutz stehenden Kirche – ein besonderer Schatz der serbisch-orthodoxen Kirche. Zu Beginn geraten wir selbst fast in einen Konflikt: Mit einem kräftigen Schlag auf die nackten Beine einer Teilnehmerin unseres Ausfluges gibt eine ältere Nonne zu verstehen, dass sie trotz sommerlicher Temperaturen auf Verhüllung besteht (Die betroffene Person hat die Erlaubnis gegeben, diese Anekdote zu veröffentlichen).

 

Neben dem dem Rauchen und dem Tragen von Waffen sind im Kloster Gračanica auch das Fotografieren (für uns machte man eine Ausnahme) und zu kurze Kleidung (für uns machte man keine Ausnahme) verboten. Foto: Thomas Otto

Neben dem dem Rauchen und dem Tragen von Waffen sind im Kloster Gračanica auch das Fotografieren (für uns machte man eine Ausnahme) und zu kurze Kleidung (für uns machte man keine Ausnahme) verboten. Foto: Thomas Otto

 

Wir werden empfangen von Vater Sava Janjic. Der Mönch lädt uns ein zu Kaffee und Rakija – einem traditionellen Obstbrand der Balkanregion („Brand“ ist hier im doppelten Wortsinn gemeint). Aus Respekt vor den hiesigen Gepflogenheiten nehmen wir trotz der frühen Tageszeit die Einladung an. Janjic spricht vom Zusammenleben verschiedener Ethnien auf dem Balkan, dass die Unterschiede oft viel größer gemacht würden, als sie eigentlich seien und dass Religion als Waffe benutzt wurde, um Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Der bärtige Mönch in seinem schwarzen Gewand spricht dabei eher wie ein Politikwissenschaftler oder Historiker, als ein Geistlicher. Sein Englisch ist fließend.

 

Vater Sava Janjic. Foto: Thomas Otto

Vater Sava Janjic. Foto: Thomas Otto

Janjic wünscht sich ein friedliches Zusammenleben aller Menschen auf dem Balkan. Trotzdem lehnt er eine Anerkennung des Kosovo als eigenständigen Staat ab. Es gäbe zu viele Menschen im Land, die eine Vereinigung mit Albanien anstreben würden. Dann würde die serbische Minderheit von der albanischen Mehrheit in den staatlichen Institutionen noch mehr diskriminiert werden. Diese Befürchtung wirkt zunächst etwas verbohrt, bis Sava Janjic schließlich erzählt, dass er bereits vier Angriffe auf serbische Klöster und Kirchen selbst miterlebt hat – nach dem eigentlichen Ende des Krieges. Die vielen im Krieg zerstörten serbisch-orthodoxen Kirchen gar nicht mitgezählt.

Immer wieder: „Korruption!“

So eine Pressereise ist auch so eine Art betreutes Recherchieren. Viele Gespräche stehen auf dem Terminplan, ein Interview jagt das nächste. Dazwischen etwas Zeit, um auf eigene Faust Eindrücke zu sammeln. Viel Zeit, um das Land kennenzulernen, bleibt da zwar nicht. Andererseits haben wir Journalisten so die Möglichkeit Interviews zu führen, die wir sonst nur mit viel Mühe organisieren könnten – wenn wir die Gesprächspartner überhaupt vors Mikrofon bekämen.

Kosovos Präsidentin Atifete Jahjaga. Foto: Thomas Otto

Kosovos Präsidentin Atifete Jahjaga. Foto: Thomas Otto

Da ist zum einen die ehemalige Polizistin und heutige Präsidentin Atifete Jahjaga, die uns von den Erfolgen im Kosovo vorschwärmt. Oder Regierungschef Isa Mustafa, der zuvor Bürgermeister der Hauptstadt Priština war. Wie so vielen Politikern im Kosovo werfen ihm seine Kritiker vor, in dieser Zeit viel zu wenig gegen Korruption und Vetternwirtschaft getan zu haben – oder sich vielleicht sogar selbst bereichert zu haben? Und wie bei so vielen anderen Politikern im Kosovo wurden diese Anschuldigungen bisher vor keinem Gericht bewiesen.

Besonders laut erhebt Dardan Sejdiu, der stellvertretende Bürgermeister von Priština, solche Vorwürfe. Er gehört der Partei Vetëvendosje! („Selbstbestimmung“) an und schimpft laut über die seiner Ansicht nach korrupte politische Klasse im Land. Noch mehr lehnt er aber die EULEX-Mission der EU ab, die seit 2008 versucht, im Land gegen Korruption und organisiertes Verbrechen vorzugehen und dem Kosovo dabei helfen soll, eine funktionierende Polizei und Justiz aufzubauen.

Pristinas stellvertretender Bürgermeister Dardan Sejdiu. Foto: Thomas Otto

Pristinas stellvertretender Bürgermeister Dardan Sejdiu. Foto: Thomas Otto

 

 

EULEX selbst wurde allerdings auch Korruption vorgeworfen – von einer ehemaligen Mitarbeiterin. Zwar konnten diese Anschuldigungen nie bewiesen werden. Ein Sonderermittler kam aber zu dem Schluss, dass EULEX auf ganzer Linie darin gescheitert ist, im Kosovo für Rechtsstaatlichkeit zu sorgen.

Der EULEX-Chef Gabriele Meucci gesteht das auch ein. Schlechte Arbeit hätten die rund 1.600 Mitarbeiter aber trotzdem nicht geleistet. Sie würden allen Vorwürfen von Korruption nachgehen und – gibt es genügend Hinweise – Beamte und Politiker auch vor Gericht stellen. Seiner Ansicht nach sind es die EULEX-Kritiker von Vetëvendosje!, die die Arbeit der Mission mit erdachten Korruptions-Hinweisen lähmen wollen.

Der wohl erfahrendste Staatsmann, den wir treffen, ist Innenminister Skënder Hyseni, der seit 25 Jahren politisch aktiv ist. Er träumt von einem Balkan, auf dem alle Staaten und Ethnien friedlich koexistieren – gemeinsam in einer dann um die Balkanstaaten erweiterten EU. Der Weg dahin ist noch sehr weit. Selbst offizielle Beitrittsverhandlungen sind noch weit entfernt. Geht es nach den Kosovaren, können diese aber nicht schnell genug kommen. Die Zustimmung zu einem EU-Beitritt des Kosovo sei extrem groß, erzählt man uns – trotz der Ablehnung vieler gegenüber EULEX.

Land der Widersprüche

Es sind die vielen Widersprüche, die diese Reise ins Kosovo so spannend machen. Die „Wahrheit“ liegt bei den vielen Streitthemen wohl wie so oft in der Mitte – oder zumindest bei keinem der Politiker und Beamten allein.

Viele verschiedene Probleme lähmen die Entwicklung im Land. Bei genauer Betrachtung hängen diese alle miteinander zusammen. Korruption steht ganz oben auf der Liste, so viel steht fest. Die schlechte wirtschaftliche Lage nimmt vielen Menschen jegliche Perspektive für die Zukunft. Und diejenigen, die ein Unternehmen auf die Beine stellen und exportieren wollen (wie Armend Malazogu, der erst eine IT-Firma gegründet hat und nun gesunde Smoothies aus kosovarischer Herstellung in die EU exportieren will), scheitern an der fehlenden internationalen Anerkennung des Kosovo und den Visa-Hürden für den Schengen-Raum. Soll das Kosovo ein stabiler, rechtsstaatlicher und wirtschaftlich gesunder Staat werden, braucht es dazu auch den festen Willen all seiner direkten und ferneren Nachbarn: nicht nur Serbiens, sondern vor allem die der EU.

 

Hinweis in Sachen Transparenz:

Der Autor hat an einer Pressereise teilgenommen, die mit Mitteln der Europäischen Union finanziert wurde.

 

Mehr Informationen zum Thema Kosovo

Islamischer Staat – Werben um Kämpfer aus dem Balkan
(Deutschlandfunk, 11.06.2015)

Kosovo – Flucht aus dem Land ohne Hoffnung
(Deutschlandfunk, 06.04.2015)

Vor 25 begann der Zerfall Jugoslawiens
(Berlin-Brüssel-Blog, 22.01.2015)