Berlin
Alles fest? Christos verhüllter Reichstag 1995 (Foto: Heike Giese)
24.06.2015

Unverhüllte Ratlosigkeit

Von

Der 24. Juni 1995: Ein Parlament ist komplett verhüllt, beäugt und bestaunt von Tausenden. Doof nur, wenn man damals als kleiner Junge mit Christos Kunstwerk nicht viel anfangen kann. Ein Erfahrungsbericht.

Früh geht’s raus an diesem Morgen, sehr früh. Meine Mutter, mein Bruder, eine Freundin und ich fahren zum Hamburger ZOB. Dann rein in einen Bus und weiter auf die Autobahn. Das Ziel: Berlin. Meine Mutter sagt, dass wir uns dort den verhüllten Reichstag anschauen. Ich habe ehrlich gesagt keine richtige Ahnung, was es damit auf sich hat.

Ich bin an diesem Tag im Sommer 1995 neun Jahre alt. Schon am Morgen ist es sehr heiß. Die Fahrt kommt mir endlos vor. Vorne im Bus holt der Beifahrer immer wieder Getränke aus einer kleinen Kühlbox und reicht sie weiter an zahlende Reisende.

 

Kinder vor dem verhüllten Reichstag, ganz rechts unser Autor (Foto: Ursula Tipke-Kulms)

Kinder vor dem verhüllten Reichstag, ganz rechts unser Autor (Foto: Ursula Tipke-Kulms)

Irgendwann haben wir endlich Berlin erreicht. Die Hitze kommt mir nun unerträglich vor. Und dann stehen wir plötzlich auf einer großen Wiese. Um uns herum tausende Menschen, viele mit Fotoapparaten. Alle schauen sie gebannt auf dieses Riesengebäude, das da silbergraustrahlend vor uns verhüllt ruht. Sieht schon seltsam aus, mit Kinderaugen betrachtet. Und auch, als wir uns dem Riesen nähern und mein Bruder und ich beginnen, vereinzelt an den blauen Seilen herum zu rütteln, die das ganze zusammenhalten: So richtig vom Hocker haut mich das nicht. Wie kommt man auf die Idee, ein Gebäude so einzupacken? Und was soll das ganze? Das sind zwei Fragen, die ich mir an diesem Tag immer wieder stelle.

Auch, wenn ich bei heutiger Betrachtung der damaligen Fotos eigentlich gar nicht so unglücklich dreinschaue: Mir ist das alles zu wuselig. Die vielen Leute, aber auch dieser Reichstag. Und diese Hitze erst – einfach nicht mein Ding. Später schlendern wir noch weiter durch Berlin. In einem großen Hof, der mir vorkommt wie das Ende der Welt, verkauft uns ein Typ mit Respekt-einflößender Haarpracht ein paar Limos. Erst viel später werde ich begreifen, dass es sich bei dem Hof um das Tacheles handelte.

 

Unser Autor erkundet das Tacheles (Foto: Ursula Tipke-Kulms)

Unser Autor erkundet das Tacheles (Foto: Ursula Tipke-Kulms)

 

Sowieso, Berlin im Sommer 1995: Das sind für mich irgendwie nur tausende Baustellen und viel Lärm. Unerträglich erscheint mir die Fahrt im Doppeldecker in der Nachmittagshitze. Stattdessen wäre ich jetzt viel lieber im schwedischen Sommerurlaub, sage ich mir.

Genau 20 Jahre später: Die damalige Ruhe und die Leere rund um den Reichstag sind verschwunden. Die Brachen weitestgehend auch. Hochgezogen wurden stattdessen viele neue Bauten für Abgeordnete und die Mitarbeiter des Bundestags. Auch das Gebäude der Bundespressekonferenz, in dem das Deutschlandradio sein Hauptstadtstudio hat, gab es 1995 noch nicht.

 

Gibt's heute nicht mehr: Eine Brache nahe des Reichstags 1995 (Foto: Ursula Tipke-Kulms)

Gibt’s heute nicht mehr: Eine Brache nahe des Reichstags 1995 (Foto: Ursula Tipke-Kulms)

Nun kann ich jeden Tag das Reichstagsgebäude sehen mit der Kuppel, in der fast immer Besucher rumlaufen. Es scheint mir schwer, mir heute vorzustellen, dass dieses Gebäude mal für ein paar Wochen komplett verhüllt war. Und dass mir das damals nicht gefallen hat. Christo hat damals sehr, sehr lange kämpfen müssen, um dieses Projekt in die Tat umzusetzen. Ob so etwas heute noch mal möglich wäre? Und vielleicht schneller gehen würde? Ich würde es mir wünschen. Ich würde gerne noch mal vor so einem verhüllten Reichstag stehen und staunen wie ein kleiner Junge. Auch wenn ich es damals nicht getan habe.