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Merkel reist nach Indien / Foto: Deutschlandradio Detjen
07.10.2015

Protestantin auf Reisen

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Auch aus Flugrouten lässt sich etwas über die Zusammenhänge der Welt lernen: Distanzen und Näheverhältnisse werden plastisch erfahrbar. Die geografische Ordnung der Erdoberfläche prägt das politische Weltgefüge. Angela Merkel lässt sich auf ihren Auslandsreisen deshalb gerne ganz genau erklären, wo es lang geht. Wenn die Karten auf den Monitoren ihres Regierungsairbus keinen Aufschluss geben, lässt sich die Kanzlerin von ihren Piloten auch schon mal eine Navigationskarte ausdrucken. Sie studiert das Papier als wäre es eine Aktenvorlage aus dem Kanzleramt. Anschließend zählt sie ihren Mitreisenden mit strahlenden Augen auf, wie viele Krisenherde und politische Brennpunkte sie in den nächsten Stunden überfliegen werden.

Ersatzflieger für Indien / Foto: Deutschlandradio Detjen

Ersatzflieger für Indien / Foto: Deutschlandradio Detjen

Die Rückreise von der zweitägigen Indienreise bietet in diesen Tagen reiches Anschauungsmaterial für die Bundeskanzlerin. Über den indischen Ozean geht es zur arabischen Halbinsel. Der Jemen ist eine der ideologischen Bruchkanten des Nahen Ostens. In Saudi-Arabien, so hat es der indische Premier Modi der Kanzlerin am Vortag erklärt, lebt die größte Zahl von Indern außerhalb ihres Heimatlandes. Der Iran verweigerte ihrem Jet das Überflugrecht, als Merkel 2011 auf derselben Route unterwegs war. Heute geht es in ruhiger Luft weiter über den Irak, die Türkei und Griechenland. Die Gegenden der Welt, die Merkel in diesen Tagen  in Atem halten, ziehen in tiefer Dunkelheit unter ihr vorüber. Die Kanzlerin und ihre gesamte Delegation absolvieren diese Reise in einem tarngrauen Truppentransporter der Luftwaffe. Wegen eines technischen Defekts war der elegante Regierungsairbus mit VIP-Bereich, Schlafkabine für die Chefin und Besprechungsraum kurz vor Reisebeginn ausgefallen. Der mit engen Sitzreihen bestückte und auf den einstigen SPD Vorsitzenden Kurt Schumacher getaufte A 310, in dem Merkel und ihre Leute jetzt sitzen, bringt normalerweise Bundeswehr-Kontingente zu den Auslandseinsätzen in Afghanistan, am Horn von Afrika oder im türkisch-syrischen Grenzgebiet.

Chefkorrespondent Stephan Detjen auf dem Weg nach Indien

Chefkorrespondent Stephan Detjen auf dem Weg nach Indien

In Indien schienen Krisen und Konflikte zwei Tage lang in den Hintergrund gerückt. Merkel besuchte High Tech Unternehmen, nahm an einer deutsch-indischen Wirtschaftskonferenz teil und verfolgte  mit zufriedener Miene eine Zeremonie, in der Minister und Staatssekretäre ihrer Regierung reihenweise Kooperationsabkommen mit ihren indischen Kollegen unterzeichneten. Die Debatte über ihre Flüchtlingspolitik aber ließ die Bundeskanzlerin auch hier nicht los. In Pressebegegnungen und Hintergrundgesprächen wird sie immer wieder darauf angesprochen. Auch eine Woche vorher, bei den Vereinten Nationen in New York, gab es keine Begegnung mit ausländischen Staats- und Regierungschefs, bei der Merkel nicht gefragt worden wäre: wie geht es weiter mit den Flüchtlingen in Deutschland und Europa? Kann der Strom der Flüchtlinge gestoppt, umgelenkt, gemildert werden? Wie lange behält Deutschland das freundliche Gesicht gegenüber den Flüchtlingsmassen, für das es andernorts teils respektvoll-bewundernd, teils ungläubig und skeptisch bestaunt wird.

Angela Merkel weiß, dass ihr Umgang mit dem Flüchtlingsstrom längst zu einem Schicksalsthema ihrer Kanzlerschaft geworden ist. Die Nachrichten von der unverhohlen aggressiv gegen sie gerichteten Kritik aus Bayern, dem Grollen in der eigenen Bundestagsfraktion, den Absetzbewegungen des Vizekanzlers, den zweifelnden Fragen, die der Bundespräsident in seinen Reden aufgreift, haben sie in den letzten Tagen nahezu im Stundentakt erreicht. Auch auf ihren Auslandsreisen halten die Mitarbeiter des Bundespresseamts die Kanzlerin unablässig auf dem Laufenden.

Merkel aber hat sich entschieden, ihren Kurs zu halten. Sie hat erlebt, wie unstet sich ihr von Medien und politischen Gegnern gezeichnetes Bild in den vergangenen Monaten immer wieder wandelte. Nach der Begegnung mit dem palästinensischen Flüchtlingsmädchen Reem wurde sie als kaltherzige Ausweisungstechnokratin gescholten. Wenige Wochen später erschien sie auf dem Spiegel Titel als Mutter Theresa. Nach den Ausschreitungen in Heidenau warfen Oppositionspolitiker und Pressekommentatoren der Kanzlerin vor, sich der Konfrontation mit „Dunkeldeutschland“ zu verweigern. Als Merkel kurz darauf nach Heidenau fuhr, von pöbelnden Demonstranten als Volksverräterin beschimpft und glücklichen Flüchtlingen auf Selfies umarmt wurde, hielt man ihr vor, nur noch weitere Menschen anzulocken.

Merkel hat ihre Position gründlich durchdacht. „Ich habe für mich eine klare Haltung“, sagt sie  im Deutschlandfunk Interview am vergangenen Sonntag. Sie betont den Begriff „Haltung“ deutlich hörbar. Dabei wirkt sie ruhig und in sich ruhend. Als wir sie zur Aufzeichnung des Gesprächs am Tag der Deutschen Einheit im Kanzleramt treffen, hat Merkel ein Mammutprogramm hinter sich: nächtliche und bis in den späten Abend reichende Flüchtlingsgipfel in Brüssel und Berlin, unmittelbar nach dem Treffen im Kanzleramt der Flug zur UNO nach New York, dort ein dichtes Programm von öffentlichen Sitzungen vor laufenden Kameras sowie bilaterale Gespräche mit Staats- und Regierungschefs. Nur einmal, während der Rede des Papstes vor der UN Vollversammlung, scheint es für einen Augenblick, als fielen ihr die Augen zu.

 

Interview der Woche am 3. Oktober 2015 Bundeskanzlerin Angela Merkel und Stephan Detjen / Foto: Christian Kruppa für Deutschlandradio

Interview der Woche am 3. Oktober 2015 Bundeskanzlerin Angela Merkel und Stephan Detjen / Foto: Christian Kruppa für Deutschlandradio

Zum Interviewtermin im Besprechungsraum, in dem sie sich sonst morgens um 8:30 mit ihren engsten Mitarbeitern zur „kleinen Lage“ trifft, kommt Merkel fröhlich aus Ihrem wenige Schritte entfernten Büro herüber. Vormittags war sie beim Festakt zur Einheitsfeier in Frankfurt gewesen. Draußen wärmt die Herbstsonne die Stadt. In den Parkanlagen vor dem Kanzleramt strahlen die Bäume in farbiger Pracht. Hat sie noch Zeit für einen Herbstspaziergang? Nein, am Abend ist noch das Einheitsfest des Bundestagspräsidenten vor dem Reichstagsgebäude. Am nächsten Morgen um 11 – während im Deutschlandfunk unser Interview läuft – ist Abflug nach Indien.

Interview der Woche – Deutschlandfunk 04.10.2015

Das DLF Gespräch war das erste ausführliche Interview Merkels zur aktuell verschärften Debatte um ihre Politik. Es war zugleich der Auftakt einer breit angelegten Kommunikationskampagne. Am Mittwochabend geht Merkel zu Anne Will ins Fernsehen. Weitere Interviews sollen folgen. Am Donnerstag beginnt in Wuppertal eine Reihe von Regionalkonferenzen der CDU. Merkel muss sich und ihre Politik erklären. Der Riss, der zwischen der Kanzlerin und Teilen der eigenen Partei sichtbar wurde, ist von anderer Qualität als in früheren Debatten. Beim Atomausstieg, dem Ende der Wehrpflicht oder in der Familienpolitik nahm Merkel Stimmungen und Forderungen auf, die längst auch in Teilen der CDU breit artikuliert waren und keineswegs immer ihren persönlichen Überzeugungen entsprachen. Jetzt aber wird der Kurs der Regierung in der Flüchtlingspolitik ihr allein zugeschrieben. In der Euro- und Griechenland-Krise schilderte Merkel immer wieder, wie schwierig es für sie selbst war,  sich tastend „im Nebel“ der politischen und ökonomischen Ungewissheiten zu bewegen. In der jetzigen Krise hat sie ihre Orientierung gefunden: „Mit Zäunen werden wir das Problem nicht lösen“. „Wir müssen jeden Menschen als Menschen behandeln“. „Man sollte Menschen, die zu großen Teilen aus einer Notsituation kommen, freundlich ‚willkommen‘ sagen“. „Wir schaffen das“. Merkel wiederlegt alle, die glaubten, diese Positionen seien lediglich Ausdruck einer sommerlichen Euphorie gewesen. „Sich wegzuducken und zu hadern ist nicht mein Angang“, sagt sie im DLF Interview – und wir werden solche Sätze in den kommenden Tagen und Wochen immer wieder von ihr hören. Merkel nimmt damit vor allem gegenüber der eigenen Partei eine Haltung ein, wie sie zuletzt in den ersten Jahren nach der Wahl zur CDU-Vorsitzenden im Ringen gegen ihre innerparteilichen Widersacher gezeigt hatte: geprägt von der Überzeugung, den richtigen und einzig gangbaren Weg eingeschlagen zu haben, der mentalen Kluft zu weiten Teilen der eigenen Partei ins Auge blickend, die Möglichkeit des eigenen Scheiterns nüchtern einkalkulierend. Der Satz „… dann ist das nicht mein Land“, den sie nach der umstrittenen Entscheidung zur Öffnung der Grenzen für die aus Ungarn nach Deutschland marschierenden Flüchtlinge aussprach, verweist implizit auf die mögliche Antwort des Landes in Gestalt seiner wählenden Bürger: „dann ist das nicht mehr unsere Kanzlerin“. Merkel hat damit die für sie politisch existentielle Dimension der Lage ausgedrückt. In der Eurokrise agierte sie als Naturwissenschaftlerin wie in einem großen Experiment mit wechselnden Versuchsanordnungen.  Jetzt, in der Flüchtlingskrise, erweist sie sich als Protestantin: Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.

Interview der Woche 3. Oktober 2015 Bundeskanzlerin Angela Merkel / Foto: Christian Kruppa für DeutschlandradioNutzungsrechte fŸr Deutschlandradio Gruppe frei.

Interview der Woche 3. Oktober 2015 Bundeskanzlerin Angela Merkel / Foto: Christian Kruppa für Deutschlandradio

Kommentare zu diesem Beitrag (1)

  1. theo | 7. Oktober 2015, 14:13 Uhr

    Wette?

    Lieber Herr Detjen,

    mal was ganz oberflächliches:
    Haben Sie eine Wette verloren?
    Oder rasieren Sie sich erst wieder, wenn Merkel die „implizit (mitgedachte) mögliche Antwort des Landes in Gestalt seiner wählenden Bürger“ erhalten hat?

    Gruß nach Berlin,
    Theo