Berlin, Brüssel
Die Große Moschee im Brüsseler Jubelpark. Foto: Jenny Genzmer
Die Große Moschee im Brüsseler Jubelpark. Foto: Jenny Genzmer
14.12.2015

Molenbeek liegt im Zentrum Europas

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Ein November in Brüssel – die Idee ihrer vorletzten Volontariats-Station war es, die Arbeit unserer Auslandskorrespondenten in Brüssel kennenzulernen. Jenny Genzmer wollte Europa entdecken und dieses abstrakte Gebilde, das in diesen Tagen so viel in Frage gestellt wird, besser verstehen. Sie wollte Geschichten finden, mit denen sie von Europa erzählen kann. Und die fand sie – am Beispiel von Brüssel selbst.

Brüssel ist ein Zusammenschluss aus 19 autonomen Gemeinden. Mit Bürgermeistern, denen die Zusammenarbeit schwer fällt und die nicht nur zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, wie Flamen und Wallonen gehören. Sie verständigen sich auch in unterschiedlichen Sprachen, nämlich auf Niederländisch und Französisch. Die Viertel werden von gesellschaftlichen Gruppen bewohnt, die verschiedener kaum sein können. Da ist das hochformatierte Europaviertel, in dem gekämmte Menschen mit Anzügen über die Bürgersteige eilen. Und da ist, gleich hinter dem studentischen Sainte- Catherine, das berühmt gewordene Molenbeek, ein Stadtteil der nach den Attentaten von Paris als „Dschihadisten-Hochburg“ in die internationalen Medien gelangte. Ein Viertel, in dem die Wohnungen vernachlässigt, aber preiswert sind, in dem sich eine große muslimische Gemeinschaft gebildet, aber nahezu isoliert hat, und in dem sowohl der Anteil an Jugendlichen als auch an Arbeitslosen weit über dem Landesdurchschnitt liegen. Die Regierungen der Brüsseler Stadtteile akzeptieren sich, empfinden sich aber nicht als gleichwertig. Und leben so neben-, aber nicht miteinander.

Stigmatisierung, Überreaktion und offene Fragen

 

Marktplatz und Rathaus von Molenbeek. Der Brüsseler Stadtteil gilt als ein Ort, an dem Muslime zunehmend radikalisiert werden. Foto: Jenny Genzmer

Marktplatz und Rathaus von Molenbeek. Der Brüsseler Stadtteil gilt als ein Ort, an dem Muslime zunehmend radikalisiert werden. Foto: Jenny Genzmer

Als schnell klar war, dass die Attentäter enge Verbindungen nach Molenbeek hatten, fiel auf den Bezirk ein Schlaglicht. Er wurde von Polizei und Journalisten besetzt, ganz Europa zeigte auf das „Terrornest“ und die belgische Tageszeitung „Le Soir“ fragte: „Weshalb immer wieder Molenbeek“? Obwohl die Antwort jeder kannte. Der ehemalige Bürgermeister des Viertels, Moureaux sagte, er habe alles getan, was er konnte; Premier Charles Michel gibt zu, das Problem nicht im Griff- und sowieso viel zu lange ignoriert zu haben. Nun solle alles anders werden.

Es kam aber nicht zu einer großangelegten Initiative für Molenbeek – ein Auftakt für Sozial- und Investitionsprogramme. Es kam zum kompletten Lockdown der Stadt Brüssel. Wie weiter mit Molenbeek? Dazu kein Wort.

Spätestens am vierten Tag der Terrorwarnstufe „4“ – ohne U-Bahn und mit geschlossenen Geschäften, Museen, Schulen und abgesagten Konzerten, fragten sich die Menschen dann langsam, wie nötig das alles überhaupt sei.

Junge Menschen erzählen mir, diese Terrorwarnstufe sei vollkommen sinnlos, man müsse an die Ursachen des Problems gehen. Eine Schülerin hat erzählt, die ganzen Polizisten auf den Straßen schüchterten sie nicht ein, aber sie vermittelten ein Bild von Gefahr, unabhängig davon, ob es sie vorhanden sei oder nicht.

Als dann am Donnerstag (26.11.2015) die Große Moschee wegen einer suspekten Substanz, die sich nicht als Anthrax, sondern als Puder herausstellte, evakuiert wurde, dauerte es keine Stunde und die Terrorwarnstufe wurde auf „3“ herabgesetzt. Waffen hatte man immer noch nicht gefunden. Der Hauptverdächtige war noch immer auf der Flucht. Trotzdem schien es, als sei die Gefahr nun gemindert. Auf die Frage des RTBF-Frühmoderators, weshalb denn Brüssel nun wieder als sicherer gelte, fand Justizminister Koen Geens die humorvolle Antwort, die Gründe seien schwer zu erklären, selbst wenn er sie kennen würde.

 

 

Brüssel war auf einmal wieder „auf dem Weg zurück in die Normalität“ – aber weshalb eigentlich? Auf welcher Basis wurden da Entscheidungen gefällt?

Emotionale Entscheidungen statt überlegten Handelns

Der November in Brüssel hat gezeigt, wie durch Worte und Symbolhandlungen Zustände und Atmosphären geschaffen – aber keine Probleme gelöst werden. Ein Zustand, der zumindest mich an die Union erinnerte, die ich in Brüssel ja kennenlernen wollte. Die Administration der Staaten, die mit ihren unterschiedlichen Kulturen und Mentalitäten eng nebeneinander leben und einen gemeinsamen wirtschaftlichen und damit eigentlich auch politischen Raum geschaffen haben. Nur dass die Mitglieder sich zueinander ähnlich verhalten, wie die Gemeinden in Brüssel. Auf Krisen reagieren sie überzogen und unkoordiniert, errichten Zäune, schränken die mühevoll erarbeitete Infrastruktur des Schengenraums ein, fordern schärfere Sicherheitsgesetze, mehr Polizei und suchen verzweifelt nach Schuldigen. Die zaghafte Debatte darüber, wie wir Flüchtlinge besser in unsere Gesellschaft integrieren können, wurde durch die nahezu reflexartige Vermengung von Opfern und Tätern nach den Attentaten in Paris weit zurückgeworfen. Selbst die „deutsche Leitkultur“ taucht in den Forderungen der CDU und CSU wieder auf.

Weshalb sind wir nicht stolz auf unsere Vielfalt, unsere vielen unterschiedlichen Kulturen und Sprachen, für die Menschen den halben Erdball umrunden, um sie kennenzulernen? Weshalb zelebrieren wir sie nicht als einen Vorteil, der uns im Geist beweglich und affin für fremde Kulturen hält? Die Berliner tun das jährlich in großem Stil beim Karneval der Kulturen. Aus dem Kreuzberger Straßenfest ist in wenigen Jahren eine Massenveranstaltung geworden, die in Zukunft kommerzialisiert werden soll, um sie weiter finanzieren und erhalten zu können. Vielfalt als Aushängeschild. Im selben Stadtteil kämpfen Anwohner gegen die Veränderung ihres Bezirks. Nicht wegen der Einwanderer, sondern wegen der drohenden Ausgrenzung. Erst Mitte dieses Jahres haben sie Bizim Bakkal, ihren ältesten Gemüseladen, zumindest vorerst vor der Vertragskündigung gerettet. Über dem Köfteburgerladen gegenüber hängt ein Banner mit dem Slogan „Je suis Bizim Bakkal“: Eine Solidaritätsbekundung mit dem Inhaber und zugleich eine Aufforderung an die Stadt, das Milieu des Bezirkes besser zu schützen.

Während die Kreuzberger schon mit der anderen Seite der Medaille kämpfen – einem gentrifizierten Bezirk, aus dem die ursprüngliche Bevölkerung durch steigende Mieten verdrängt wird – ist Molenbeek noch weitestgehend unentdeckt. Nicht Verdrängung ist dort das Thema, sondern Isolation. Dabei handelt es sich hier nicht um einen Außenbezirk, sondern ein Viertel direkt neben der Innenstadt. Molenbeek liegt am Herzen von Europa und mit der entsprechenden Wertschätzung sollten wir die Menschen, die dort leben, behandeln.