Außenpolitik, Berlin, Bundesinstitutionen, Bundesregierung, Bundestag, Innenpolitik, Parteien, Wahlen und Wahlkampf
Interview der Woche 3. Oktober 2015 Bundeskanzlerin Angela Merkel / Foto: Christian Kruppa für DeutschlandradioNutzungsrechte fŸr Deutschlandradio Gruppe frei.
19.01.2016

State of the Union: Mit kleinstem Karo gegen die Kanzlerin

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Angela Merkel treffe ich in meinem Arbeitsalltag auch nur in Ausnahmefällen. Außer in Pressekonferenzen haben wir noch nie ein Wort miteinander gesprochen. Sie hat mich in ihrer bisherigen Regierungszeit nicht gerade begeistert. Sachlich, kühl, ohne große persönliche Note. So aufregend wie Pellkartoffeln ohne Salz. Für jemanden, der mit Politik Ideen, Engagement und Begeisterung verbindet – erst einmal unabhängig von der politischen Zielsetzung – wirkten die zehn Jahre Merkel wie ein einziger, großer Verwaltungsakt. Doch nun ist irgendwie, gefühlt, manches anders. Doch warum eigentlich?

Der Merkelismus, dieser geräuschlose Regierungsstil. Einer, bei dem Vorratsdatenspeicherung und Betreuungsgeld öffentlich wesentlich umstrittener, aber vielleicht eigentlich dann doch kleiner denn die ausgesetzte Wehrpflicht waren. Der Atomausstieg. Das im Kern unvollendete Post-Lissabon-Europa mit all seinen strukturellen Schwächen. Freiheit und Sicherheit im digitalen Zeitalter. Stellvertreterdebatten für die großen Themen statt Debatten um die großen Themen, sie haben die zehn Jahre Merkel geprägt.

Mit diesem Stil, der gut zur kleinteiligen Diskussion ohne großen Rahmen in dieser Medienzeit passt, überlebte Merkel Hoffnungsträger wie Hoffnungslose, Fraktionsvorsitzende, Minister, Ministerpräsidenten. Jeder der ging, ließ Merkel nur fester im Sattel sitzen. Und auch heute gibt es keinen natürlichen Nachfolger für sie in der Union – denn die Messlatte, der Wahlerfolg, der wirtschaftliche Erfolg, 10 Jahre kaum mehr gefährdeter Regierungszeit: all das ist Merkel, die behutsame Modernisiererin, die die postkohlianische Union schuf und vor allem in der Mitte die Wahlen gewann. Der Merkelismus, begleitet von einer Zeit der konturlosen Ministerpräsidenten, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, war die schleichende Depolitisierung des Politischen: Alternativlose Raute mit Kartoffelsuppe, Kompromiss als Zeichen der Stärke, nachhaltig.

Derzeit jedoch scheint alles irgendwie anders: seit Monaten wird die Formel bemüht, dass, sollte die Flüchtlingspolitik scheitern, Merkel gescheitert wäre. Sie hat ihr ganzes politisches Gewicht in die Waagschale geworfen: wer Merkel will, muss ihren Weg, muss Europa als Teil der Lösung, muss Flüchtlinge als Realität und Fluchtursachen als politische Aufgabe akzeptieren. Die Münchner CSU-Führung versucht seit Monaten – politisch in Berlin in der großen Koalition zwangsläufig marginalisiert – mit einem Teilzeit-Poltergeist-Darsteller Seehofer und mit schrillem Gequietsche aus der Generalsekretärs-Geige das Schreckgespenst AfD zu vertreiben, das die absoluten CSU-Mehrheiten wohl auf absehbare Zeit in die Geschichtsbücher verbannen würde. Wenn es ganz schrill werden muss, dann gibt der Rebellendarsteller Peter Gauweiler noch einmal ein Interview. Doch die Wirkung auf das reale politische Geschehen bleibt gering.

Unions-Abgeordnete der dritten bis zwölften Reihe begehren in diesen Tagen öffentlich auf, drängen sich ins Rampenlicht, sofern sie da nicht eh schon mehr Zeit verbrachten als in politisch verantwortlicher Position, wie der Griechenland-Euro-Austritt-Forderer Christian von Stetten, Baden-Württemberg, oder auch der Abgeordnete Ingo Wellenreuther, einer breiteren Öffentlichkeit nur bekannt als Vater eines Bundesligaersatztorhüters, ebenfalls Baden-Württemberg. Auch fachlich versierte doch partei- wie bundespolitisch bislang nicht zu größeren Ehren gelangte Abgeordnete wie der Hier-stehe-ich-und-kann-nicht-anders-Bundespolizist a. D. Armin Schuster (auch er: Baden-Württemberg), sind ein gutes Beispiel. Schuster findet Merkels Politik zwar falsch, seine Kritik ist bemerkenswert und für die Merkel-Republik auch vergleichsweise mutig. Doch dass Merkel gehen sollte, wenn sie nicht auf Schusters Linie einschwenkt, das würde dieser kaum fordern. So wie auch seine Parteifreunde nicht: sie wollen zwar eine andere Politik – aber mit, nicht ohne Merkel. So wie auch der „Brandbrief“ von 50 der 311 eher auf Löschpapier geschrieben scheint.

Wie aber kann das sein? Man kann der Kanzlerin und Unionsvorsitzenden sicherlich viel nachsagen, aber kaum, dass sie die Herzen der Menschen erreicht, sie mitreißt und begeistert. Und bräuchte es so etwas nicht, für eine Aufgabe wie die Bewältigung der Flüchtlingskrise? Ein Werben für das, was da auf die Gesellschaft zukommt, da ist, passieren kann und vielleicht auch wird? Wo ist das positive Ziel für alle Beteiligten – die Bürger, die Neubürger, die Politiker? Ich kann es nicht erkennen, nicht in den (kurzen) Pressekonferenzen Merkels, nicht in ihren Ansprachen, nicht in den Worten ihres Regierungssprechers. Ich sehe es nicht in den Worten ihrer Vertrauten und Wegbegleiter, wie Peter Altmaier oder Thomas de Maizière. Dass Angela Merkel im August 2015 angesichts der dramatischen Bilder die Moral als Maßstab politischen Handelns überkam, ist nach wie vor das, was mich überrascht. Waren nicht Hunderte, vielleicht Tausende, schon zuvor im Mittelmeer ertrunken? Auf dem Weg zum Mittelmeer bereits umgekommen oder haben Schreckliches durchlitten? Was ist mit jenen, die seit Monaten oder Jahren in Flüchtlingslagern leben? Lagern, die kaum mehr sind als ein menschenunwürdiges Vegetieren, und die nur mit vager Hoffnung auf Rückkehr erträglich sind? War die humanitäre Notlage erst relevant, als die Menschen auf EU-Territorium waren? Zurück zur Kartoffelsuppe.

Die Kanzlerin hat keinen Ruf als Menschenfreundin zu verteidigen gehabt. Wer also ist diese Angela Merkel, die einigen in ihrer Partei nun so fremd scheint? Ist sie wirklich so unverzichtbar und alternativlos für diese Union?

An einen dürren Strohhalm klammern sich seit Monaten Politikjournalisten: die These, dass ein Interims-Bundeskanzler-Kandidat Wolfgang Schäuble, der für einen Finanzminister ungewöhnlich beliebte Dino der Bundespolitik, auf Merkel folgen könnte. Schäuble, Landesverband – ach, Sie wissen schon – wäre schön dämlich, das allzu laut öffentlich zu dementieren. Immerhin trüge die Hoffnung der Enttäuschten dann immer noch die ‚richtige‘ Parteifarbe. Und zugleich spricht rein gar nichts dafür, dass Schäuble aktiv einen solchen Putsch anstreben würde. Und das hat einen einfachen Grund: Schäuble kann rechnen.

Bis zur Regierungsbeteiligung der Union könnten die Kosten in der kleinen Unionswelt reichen. Dass bei einem Scheitern Merkels bald Neuwahlen ins Haus stünden, deren Hauptgewinner die AfD wäre, was – egal wie – das Regieren nicht einfacher machen würden, das dürfte einem Wolfgang Schäuble kaum entgangen sein. Und vor allem Merkel hat die Kohl-CDU für die von klassischen sozialen Milieus entfesselte Mitte wieder wählbar gemacht, die FDP am Ende sogar zumindest zeitweilig die Bundesrelevanz gekostet. Mit Merkel würde auch der gesamte gesellschaftlich liberalere Teil der Union entmachtet. Die vage Hoffnung, dass mehr unionsnahe Wähler mit Schäuble statt Merkel bei Wahlen nicht zuhause bleiben, sondern wieder Union wählen, ist eine Milchmädchenrechnung – denn was rechts zu gewinnen man glauben kann, wird in der Mitte verloren werden.

Und Schäuble weiß noch etwas Anderes ganz genau – so wie Merkel: Über Obergrenzen, Integrationspflichten und die Pflichten der anderen EU-Mitgliedstaaten zu diskutieren, das ist vergleichsweise einfach: Finger auf die jeweils anderen. Wo aber sind die Konzepte für die Lösung der Ursachen? Wo die im Umgang mit den Folgen der Massenflucht nach Deutschland? Ist die Idee des Dubliner Übereinkommens von 1990, im Geiste fortgesetzt bis zur heute gültigen Dublin-III-Verordnung, Flüchtlingsschutz und Asylrecht an den europäischen Außengrenzen abzuladen, nicht endgültig gescheitert? Was soll darauf folgen? Asylantragslager an den Außengrenzen (vielleicht auch schon davor in Nordafrika, in der Türkei?) mit anschließendem Verteilungssschlüssel über ganz Europa, solange es noch steht, ohne einen Rechtsanspruch auf ein Individualverfahren in einzelnen Mitgliedstaaten? Das alles kann man wollen. Aber man muss es formulieren und die Konsequenzen klar benennen.

Auch in der Innenpolitik ist zwar das Geschrei über Turnhallenbelegung groß. Aber wo sind die konkreten Antworten der Kritiker? Wo soll der Wohnraum herkommen, der eigentlich jetzt schon gebraucht würde? Wie sollen Flüchtlinge adäquat qualifiziert werden? Wie verhindert man die Fehler der Einwanderungswellen der Vergangenheit? Wie lässt sich verhindern oder aber zumindest abfedern, dass das Mehr an Bevölkerung negative Rückwirkungen auf die sozial Schwachen, egal welcher Herkunft, mit sich bringt? Der soziale Frieden wird nur dann erhalten bleiben, wenn mit Fleiß und Leistung das eigene Leben auf erträglichem Niveau möglich ist. Das schließt eine faire Chance auf Prosperität, ein in individueller Freiheit gelebtes, sicheres Leben ein, und das verlangt von Alt- wie Neubürgern schon einiges.

Auf diese neuen deutschen Verhältnisse Antworten zu finden, das ist viel schwieriger als das Geraune einiger in den Unionsparteien, ob Merkel noch die Richtige ist. Es ist ganz viel kleines Karo, das ihr in diesen Wochen entgegengehalten wird. Sollte sie irgendwann tatsächlich einmal im Ruhestand sein, würde ich mit ihr gerne mal eine Kartoffelsuppe essen und über diese Monate sprechen.

Kommentare zu diesem Beitrag (4)

  1. addi | 21. Januar 2016, 6:31 Uhr

    Frau Merkel sollte meines Erachtens aus dem politischen Verkehr gezogen werden, da sie
    mir nervlich und seelisch angeschlagen erscheint.
    Frau Merkel ist verheiratet, doch nicht Mutter. Sie befindet sich in den Wechseljahren, so dass
    sie jetzt für die Flüchtlinge “ Mutti Merkel “ sein möchte, um ihre Muttergefühle ausleben zu
    können.

    • Falk Steiner | 21. Januar 2016, 18:47 Uhr

      Das also ist das, was Sie zu dem Beitrag zu sagen haben. Machen Sie weiter so. Das überzeugt ungemein.

  2. thilo | 21. Januar 2016, 7:17 Uhr

    Merkel- Sprecher

    Sehr schön geschrieben. Könnte durchaus vom Herrn Seibert persönlich sein. Das zum Thema kritische Distanz.

    • Falk Steiner | 21. Januar 2016, 18:42 Uhr

      Vielen Dank für diesen in der Sache so wertvollen Kommentar. Sie haben mich wirklich tief beeindruckt mit ihrer analytischen Schärfe.