Außenpolitik, Berlin, Kommentare
Stephan Detjen im Deutschlandradio-Hauptstadtstudio / Foto: Ansgar Rossi
05.04.2016

Erdogan ist nicht mehr komisch

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Ein Kommentar

im Deutschlandfunk

Die gegenwärtige Diskussion über den Umgang des türkischen Staatspräsidenten mit den Medien verengt den Blick. Bei einigen, die das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei jetzt als Pakt mit dem Teufel geißeln, ist das möglicherweise sogar beabsichtigt. Wer sich gegenüber Erdogan als Verteidiger der Pressefreiheit geriert, darf jedenfalls nicht im gleichen Atemzug den ungarischen Ministerpräsidenten Orban zur Leitfigur einer vermeintlich besseren Flüchtlingspolitik stilisieren.

Die CSU hat Erdogan damit als Instrument ihrer parteiinternen Abrechnungen mit Merkel benutzt. Das ist so billig, wie der schale Humor deutscher Fernsehkomiker, die den türkischen Autokraten wie einen Schrottwagen für ihre fragwürdigen Witze ausschlachten.

Tatsächlich geht es um mehr als nur um Flüchtlingspolitik und Pressefreiheit. Das macht die Sache nicht besser, sondern nur komplizierter. Ob Erdogan sich über Satiresendungen im deutschen Fernsehen erregt, dürfte vor allem einem Afghanen, Syrer oder Iraker, der in diesen Tagen in ein türkisches Flüchtlingslager ausgewiesen wird, eher gleichgültig sein. Medien tun derweil gut daran, den Blick auch weiterhin auf die konkreten Schicksale jener zu richten, die jetzt hinter die Außengrenzen Europas verschafft werden sollen.

Das Problem, dass Erdogan für Europa darstellt, reicht in Wirklichkeit weit über die Flüchtlingspolitik hinaus. Der türkische Staatspräsident ist einer der Prototypen jener Politiker, die nicht allein Werte, sondern die Grundstrukturen der parlamentarischen Demokratie westlichen Typs infrage stellen. Zusammen mit Wladimir Putin und Viktor Orban ist er einer der führenden Repräsentanten jener Systeme, die das Prinzip verfassungsmäßig geordneten Checks and Balances durch eine neue Form autoritärer Zentralgewalt ersetzen.

Die in der westlichen Verfassungstradition entwickelte Verschränkung exekutiver, parlamentarischer und höchstrichterlicher Macht wird von diesen neuen Führergestalten des 21. Jahrhunderts als ineffizient verhöhnt, die Vielfalt demokratischer Diskurse in einer heterogenen Gesellschaft als Ausdruck von Orientierungslosigkeit und Werteverfall diffamiert.

Am Ende des 20. Jahrhunderts wollten wir glauben, dass dieses Politikmodell endgültig gescheitert sei und der Vergangenheit angehöre. Erdogan, Putin und Orban aber führen uns heute vor Augen, dass die politischen Ideale und demokratischen Prinzipien, die mit dem Ende der sozialistischen Diktaturen ihre alternativlose Durchsetzungskraft zu entfalten schienen, in Wahrheit erst jetzt vor ihrer wirklichen Bewährungsprobe stehen.

Der Unterschied zwischen den autoritär gelenkten Scheindemokratien unserer Tage und den kommunistischen Einparteiensystemen des ehemaligen Sowjetimperiums oder des gegenwärtigen Chinas ist, dass diese vergleichsweise stabile Machtstrukturen entwickelt hatten und berechenbaren Interessen folgten.

In politischen Systemen aber, wie dem, das Erdogan in der Türkei konstruiert, wird Weltpolitik zum Objekt der Launen, Neurosen und höchstpersönlichen Interessen dieser neuen Herrschertypen. Das macht sie so gefährlich, dass es längst nicht mehr komisch ist.

 

(ar)