Brüssel, Europäischer Rat, Innenpolitik
Bundesinnenminister Thomas de Maizière beim Treffen mit seinen EU-Kollegen © The European Union
Bundesinnenminister Thomas de Maizière beim Treffen mit seinen EU-Kollegen © The European Union
27.04.2016

Enten, Leaks und Phantomdebatten

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Eine Regierung und ihr Minister kündigen eine Debatte an, und alle berichten darüber. Am Ende stellt sich heraus: Die Debatte gab es gar nicht. Ist die Presse beim Innenminister-Rat einer Ente aufgesessen? Oder ist hinter den Kulissen so einiges schief gegangen?

Freitag 15. April 2016, 10:00 Uhr, Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der EU: Botschafter Reinhard Silberberg hat zum Pressebriefing für den bevorstehenden Rat der Innenminister geladen. Die Veranstaltung ist gut besucht. Viele der deutschen Korrespondenten sind gekommen. Bei diesen – in der Regel vor jedem Rat und jedem Gipfel stattfindenden – Briefings, werden die auf der Agenda stehenden Themen vorgestellt und die jeweilige deutsche Position erläutert. Ton- oder Bildaufnahmen sind nicht gestattet. Es darf aber daraus zitiert werden, mit dem Verweis auf „Diplomatenkreise“. Neben der Diskussion um eine Europäische Grenz- und Küstenwache, dem Smart-Borders-Projekt und der Reform des EU-Asylsystems wird auch ein weiteres Thema des Rates angekündigt: Die Mitgliedsstaaten sollen sich festlegen, wie viele syrische Flüchtlinge sie aus der Türkei im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens aufnehmen wollen. Es soll um die ersten vier Monate des Programms gehen und zunächst um ein Viertel der ersten Tranche von 18.000 Personen.

Zur Erinnerung: Die EU und die Türkei haben sich darauf geeinigt, dass Europa für jeden von Griechenland aus in die Türkei abgeschobenen Syrer einen Syrer aus der Türkei aufnimmt – kurz das „1:1-Verfahren“. Aus dem Resettlement-Programm vom Juli vergangenen Jahres (damit sollten Flüchtlinge direkt in die EU aufgenommen werden) sind noch 18.000 von ursprünglich 22.500 Plätzen verfügbar. Diese sollen nun für Syrer aus der Türkei verwendet werden.

Durchgestochenes Papier

Am frühen Morgen des Innenministertreffens in Luxemburg (21. April) macht dann eine dpa-Meldung mit der Überschrift „EU steht vor Einigung auf Umsiedlungszahlen für Syrien-Flüchtlinge“ die Runde. Darin heißt es:

„Die Vorbereitungen für die geregelte Aufnahme von Syrien-Flüchtlingen aus der Türkei stehen vor dem Abschluss. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur wollen sich die EU-Staaten an diesem Donnerstag auf einen konkreten Verteilungsschlüssel für zunächst vier Monate einigen. Deutschland würde demnach monatlich 100 Syrien-Flüchtlinge aufnehmen, die derzeit in der Türkei leben.“

Der dpa lag ein Papier vor, das von der niederländischen Ratspräsidentschaft stammen soll und für jedes EU-Mitglied konkrete Zahlen nennt, wie viele Syrer in den ersten vier Monaten des EU-Türkei-Abkommens aufgenommen werden sollen. Unter anderem werden in der Agenturmeldung Norwegen mit 218 Flüchtlingen, Frankreich mit 148 und Italien mit 118 Personen genannt. Insgesamt könnten 1.100 Syrer pro Monat in die EU umgesiedelt werden, so die dpa.

Woher das Papier stammt, ist nicht sicher. Gerüchte besagen, es soll von deutscher Seite aus durchgestochen worden sein. Belegen lässt sich das freilich nicht. Denkbar wäre es aber durchaus. Wenn Informationen vorab an einzelne Journalisten weitergegeben werden, geschieht das nicht zwangsläufig durch Whistleblower, die mit ihrem Arbeitgeber unzufrieden sind. Oft will eine Partei damit die öffentliche Reaktion testen oder Druck auf Verhandlungspartner erhöhen.

Verwirrung um Aussage de Maizières

Donnerstag 21. April 2016, 09:40 Uhr, European Convention Centre Luxemburg: Bundesinnenminister Thomas de Maizière betritt das Tagungszentrum, in dem der Rat der EU-Innenminister stattfindet. Wie üblich gibt er vor Beginn des Treffens ein Statement ab:

 

„Die Verteilung derjenigen, die aus der Türkei kommen sollen im Rahmen der EU-Türkei-Verhandlungen, da wird es sicher am Rande heute Gespräche geben. Die Zahlen sind ja nicht so hoch – Das ist auch gut so. Wir haben angeboten, dass wir 100 pro Woche aufnehmen könnten. Und das bis zu einem Deckel von bis zu 1.600. Das Abkommen mit der Türkei wirkt. Insbesondere dadurch, dass weniger in Griechenland ankommen. Und das war ja auch das Hauptziel.“

Direkt im Anschluss korrigiert ein Sprecher der Ständigen Vertretung: 100 Personen pro Monat, nicht pro Woche! Ein unbewusster Versprecher des Ministers also? Die Journalisten rätseln. Eine Kollegin rechnet vor, dass bei 100 Personen pro Woche nach vier Monaten der angesprochene Deckel von 1.600 Menschen erreicht wäre. Doch kein Versprecher? Irgend etwas scheint hier schief zu laufen.

Gegen 13:00 Uhr hält die niederländische Präsidentschaft ihre erste Pressekonferenz an diesem Tag ab. Bis dahin sei es nur um den Themenkomplex Sicherheit gegangen, heißt es von Minister van der Steur. Anschließend gibt es noch einmal ein Gespräch zwischen einer Handvoll Journalisten und einem Vertreter der Bundesregierung. Was ist nun richtig? 100 Syrer Pro Woche oder pro Monat? Noch einmal wird die Zahl 100 Flüchtlinge pro Monat betont. Deutschland könne aber durchaus auch 200 oder 300 Syrer pro Monat aufnehmen. Man wolle aber nicht mit höheren Zahlen nach vorn preschen, sondern zunächst alle Staaten ins Boot holen und der Türkei das Zeichen senden: Die Verteilung innerhalb der EU funktioniert. Selbst, wenn nicht alle 28 EU-Staaten mitmachen.

Entsetzte Gesichter bei der deutschen Presse

Zu diesem Zeitpunkt gehen alle noch davon aus, dass tatsächlich über die niederländische Liste verhandelt werden wird. Entsprechend ist das auch das Top-Thema der Berichterstattung über das Innenministertreffen. Bis schließlich der Rat offiziell vorbei ist und die Minister ihre Pressekonferenzen geben. Bundesinnenminister de Maizière reist ohne Pressekonferenz oder Statement ab – das hatte die Ständige Vertretung bereits mitgeteilt. Daraufhin beschließen einige der deutschen Journalisten, die Pressekonferenz des luxemburgischen Migrationsministers Jean Asselborn zu besuchen. Der spricht das Thema der Verteilung syrischer Flüchtlinge zunächst gar nicht an. Auf Nachfrage erklärt er dann:

 

„Es wird in der Europäischen Union zu viel und schlecht geleaked. Dann kommen all diese Störungen vor. Ich weiß, dass wenn eine Agentur das schreibt, dass das dann selbstverständlich auch ernst genommen wird. Das ist auch gut so. Aber ich weiß wirklich nicht, was ich damit anfangen soll. Wir haben überhaupt nicht darüber gesprochen. Kein Mensche hat heute in Luxemburg darüber gesprochen.“

Ein Blick in die Runde zeigt entsetzte Gesichter. Haben wir den ganzen Tag über ein Phantom berichtet? Alles nur eine Ente, auf die die versammelte Presse hereingefallen ist? Und wie jetzt damit umgehen? Das Thema unter den Tisch fallen lassen und sich auf die anderen Themen des Rates konzentrieren? Oder offen mit der Situation umgehen, an die eigene Berichterstattung anschließen und thematisieren, dass es keine Einigung gibt. Wie auch, wenn laut Asselborn das Thema gar nicht angesprochen wurde? Ich entscheide mich für Letzteres – nicht ohne ungutes Gefühl im Bauch.

Ein paar Tage später spreche ich noch einmal mit der Ständigen Vertretung. Das Papier habe de Maizière vorgelegen, heißt es. Es habe allerdings nicht auf der offiziellen Tagesordnung gestanden. Aufgrund des großen, sich formierenden Widerstandes gegen solch eine Vereinbarung habe die niederländische Ratspräsidentschaft es auch nicht auf die Agenda gebracht.

Raus aus der Blase!

Was können wir Journalisten aus dem Geschehenen lernen? Ich bleibe dabei, dass es die richtige Entscheidung war, die Verteilung der syrischen Flüchtlinge in der EU zu thematisieren und das auch an erster Stelle zu tun. Im Vergleich zu den anderen auf dem Treffen besprochenen Themen hat diese Debatte den größten Nachrichtenwert (nicht nur aus Sicht der Nachrichtenwert-Theorie, sondern auch aus Sicht der Hörer). Und es war meiner Meinung nach auch vollkommen richtig, das Verwirrspiel um das niederländische Papier zu thematisieren und damit offen umzugehen.

Manchmal aber sitzt man zu sehr in der eigenen Blase – in diesem Fall der deutschen Berichterstattungs-Blase. Kollegen aus anderen Ländern haben die Lage ganz anders eingeschätzt. Und vielleicht hätte ich meine Berichterstattung auch anders gewichtet, hätte ich mich mehr mit den Journalisten aus Frankreich, Großbritannien oder Spanien ausgetauscht. Mit Sicherheit kann das natürlich niemand sagen.

Schief gegangen ist an diesem Tag in Luxemburg jedenfalls auf dem politischen Parkett so einiges – Mal ganz abgesehen vom Versprecher eines Ministers. Dass es nicht einmal gelang, sich auf eine feste Verteilung einer so lächerlich winzigen Zahl wie 1.100 Flüchtlinge pro Monat zu einigen, lässt tief blicken. Mit dem EU-Türkei-Abkommen und den damit extrem gesunkenen Flüchtlingszahlen scheint sich die Debatte wieder etwas beruhigt zu haben. Die eigentlichen Konflikte zwischen den Mitgliedsstaaten sind damit aber keinesfalls vom Tisch.