Außenpolitik, Berlin, Bundestag, Kommentare
09.06.2016

Kommentar: Kritik an Erdogan

Von

Ein Kommentar

im Deutschlandfunk

Schon am vergangenen Donnerstag hat Norbert Lammert als Parlamentspräsident zu Beginn der Debatte über die Armenien-Resolution auf die Drohungen gegen Parlamentarier hingewiesen und sie als nicht akzeptabel verurteilt. Wer glaubte, die Aufregung in der Türkei werde sich nach der Abstimmung schnell legen, der sieht sich getäuscht. Die Vorwürfe, vor allem gegen die elf Abgeordneten mit Türkei-Wurzeln, haben nach dem Votum eher zugenommen. Noch schlimmer: Die Tonlage wird von ganz, ganz oben vorgegeben, Erdogan stellt sich an die Spitze derer, die glauben, manch demokratisch gewählter Abgeordnete im deutschen Bundestag, sei nicht etwa in erster Linie seinem Gewissen verpflichtet, sondern einem autokratisch herrschenden Präsidenten in Ankara.

Die Wortwahl Erdogans spricht für sich, sein Gefasel von  unreinem Blut und der Versuch, deutsche Parlamentarier in die Nähe von Terroristen zu rücken, verdient Wiederholung, denn der türkische Präsident zeigt sich enthemmt und unverstellt. Wenigstens das wurde durch die lang verzögerte Abstimmung über den Völkermord in Armenien möglich. Auch wenn Norbert Lammert als Präsident des Bundestags heute  vor allem seine Pflicht getan hat: Man muss ihm dankbar sein.  In wenigen Minuten hat der Präsident des Deutschen Bundestages heute Morgen alles gesagt, was gesagt werden muss. Er sprach ohne Schaum vorm Mund, beherrscht und gleichzeitig schneidend im Ton, inhaltlich war es eine Ohrfeige für den türkischen Präsidenten. Und vielfach wurde in der Berichterstattung hinzugefügt: Die Bundeskanzlerin war anwesend und sie applaudierte.

Allein diese Erwähnung verweist auf ein Problem. Angela Merkel hatte in den vergangenen Tagen alle Möglichkeiten, die deutlichen Worte zu finden, die Norbert Lammert heute ausgesprochen hat. „Nicht nachvollziehbar“,  seien die Aussagen von türkischer Seite, hatte sie am Mittwoch gesagt. Eine harmlose Formulierung, die keinesfalls Schutz für die bedrohten Abgeordneten bedeutete, sondern vor allem das Bild einer Bundesregierung bediente, die den Mächtigen in Ankara möglichst nicht erzürnen will. Und sicher hätten Termine der Kanzlerin und des Parlaments so abgestimmt werden können, dass Merkel an der Entscheidung Donnerstag hätte teilnehmen können.

Gleiches gilt für die Kalender  von Sigmar Gabriel und Frank Walter Steinmeier. Die Resolution komme zur Unzeit, die Kooperation mit der Türkei sei gerade unverzichtbar, so lautet ein Argument derer, die das Thema Armenien am liebsten auch weiterhin auf Eis gelegt hätten. Die Reaktionen aus Ankara zeigen jetzt: Erdogan geht es nicht um Kooperation, ihm geht es um Gehorsam. Dafür gibt es keinen günstigen Zeitpunkt.

(tb)