Außenpolitik, Berlin, Brüssel, Bundesregierung, EU-Kommission, Europäischer Rat, Europaparlament, Kommentare
Stephan Detjen Chefkorrespondent im Deutschlandradio – Hauptstadtstudio / Foto: Bettina Straub Deutschlandradio
01.07.2016

Feuerzangenbowle in Brüssel: it’s the people, stupid!

Von

Als Angela Merkel am ersten Abend des EU Gipfels vor die Presse trat, hatte das Brüsseler Krisentreffen seinen Feuerzangenbowlen-Moment. Die Bundeskanzlerin gab den Gymnasialprofessor Bömmel aus dem legendären Heinz-Rühmann-Film („Jetzt stelln wir uns mal janz dumm“), der seinen Primanern erklärt, wie eine Dampfmaschine funktioniert. „Die Union – wer ist die Union überhaupt?“, begann Merkel ihren Exkurs über die Mechanik des BREXIT, der in dieser Woche in Brüssel seinen Lauf nahm. „Wunderbar -formuliert“ sei das in Art. 50 der EU Verträge, kam die Kanzlerin ins Schwärmen. „Der Rat, die Kommission, das Parlament“. „Schön“ sei das in dem Text mit den drei Artikeln bezeichnet: „der, die, das“ entzückte sich Merkel. Die Welt blickt auf die angeblich mächtigste Frau Europas, die den Kontinent vor dem Absturz in Chaos bewahren soll. Und die beugt sich über ein sprödes Vertragsdokument, um freudestrahlend herauszufinden, dass Europa immerhin die einfachsten Regeln der Grammatik auf bewundernswürdige Weise zu beachten weiß.

Wenn es gut ausgeht, können spätere Generationen einmal herzhaft lachen, wenn sie sich Merkels europapolitische Lehrstunde auf dem Brüsseler Gipfel noch einmal zu Gemüte führen. Im schlimmeren Fall wird uns allen das Lachen vergehen. Vorerst illustriert die Szene das ganze Ausmaß der Not und Ratlosigkeit, in der sich die Restgemeinschaft um den rauchenden Krater versammelt, den das britische Referendum wie ein Granateneinschlag in der Mitte Europas hinterlassen hat. Die dürren Maßgaben, die der Vertrag von Lissabon für den Austritt eines Mitgliedsstaates formuliert, müssen jetzt als rettender Strohhalm herhalten. Ein paar Worte, an die man sich klammern kann, um nicht vollends von dem turbulenten Strom der historischen Ereignisse mitgerissen zu werden. Der Vertrag weist den Institutionen der EU verfahrensmäßige Rollen im nun beginnenden Scheidungsprozess zu. Auf die entscheidende Frage aber, die sich den 27 Zurückgebliebenen stellt, gibt er keine Antwort. Auch Merkel ist dieser Frage in Brüssel ausgewichen. Sie lautet nicht, wer die Europäische Union ist, sondern was die EU nach dem Paukenschlag des britischen Referendums ist, vor allem aber, was sie in Zukunft sein will.
Kein Akteur auf der Bühne der europäischen Politik aber besitzt heute allein die Autorität, eine gültige Antwort auf diese Frage zu formulieren. Angesichts einer drohenden politischen Kernschmelze demonstriert die Bundeskanzlerin deshalb jene Technik des detailversessenen Mikromanagements, mit dem sie sich in den vergangenen Jahren schon durch die Finanz- und Eurokrise bewegt hatte: Schritt für Schritt sich vorantastend, akribische Textexegese statt visionärer Zielvorgaben. Das kleine Alphabet der Verträge buchstabiert den Minimalkonsens, der Europa jetzt zusammenhalten soll. Mitte September wollen sich die verbliebenen 27 in Bratislava treffen, um erstmals zu sondieren, wie weit der gemeinsame Boden noch reicht. Bis dahin – das ist Merkels vorläufiges Ziel – geht es allein darum, die aufbrechenden Zentrifugalkräfte zu bändigen, die Europa nur noch weiter auseinander zu treiben drohen. Die nationalen Wahlkämpfe, die in den drei größten Mitgliedsstaaten – Deutschland, Frankreich und Italien – ausgerechnet im kommenden Jahr bevorstehen, könnten zu Treibsätzen für einen weiteren Zerfall des europäischen Gemeinsinns werden.

Die rettende Wegweisung für Europa wird nicht von Merkel, Hollande, Juncker und Tusk kommen. „It’s the people, stupid“. Es sind die Menschen, die Europa in dieser Krise bewegen werden. Bei Wahlen, bei Referenden, wie sie im Vereinigten Königreich und davor in den Niederlanden stattgefunden haben, bei Demonstrationszügen, die sich in Polen gegen den nationalkonservativen Regierungskurs und – zu spät – in dieser Woche auch in London gegen die falschen Versprechen der BREXIT-Kampagne formierten. Kein Vertrag kann regulieren, in welche Richtung sich diese Dynamik weiter entwickelt. Zugleiche aber sind es die Elemente einer verfassungsmäßigen Ordnung – die Verträge, ein von den Menschen Europas unmittelbar gewähltes Parlament, die Brüsseler Institutionen, das Luxemburger Gericht – die jetzt von nie dagewesener Bedeutung sind. Sie gewährleisten Strukturen und Verfahren, in denen sich eine Weiterentwicklung Europas friedlich gestalten lässt. Deshalb verdienen sie Schutz und Anerkennung. Zumindest gilt das, solange ein Konsens über eine andere, bessere Verfassung Europas nicht erkennbar ist.