Brüssel, EU-Kommission, Europäischer Rat
Der damalige türkische Premier Ahmet Davutoğlu, Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (v.l.n.r.) beim EU-Türkei-Gipfel im März 2016 © European Union 2016
Der damalige türkische Premier Ahmet Davutoğlu, Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (v.l.n.r.) beim EU-Türkei-Gipfel im März 2016 © European Union 2016
15.08.2016

Türkei will die Spielregeln ändern

Von

Die EU wolle sich nicht an ihren Teil der Flüchtlings-Vereinbarung halten, hört man gerade immer wieder aus der Türkei. Ohne Visa-Liberalisierung werde der Deal platzen – Denn die sei zugesagt worden. Die türkische Empörung ist allerdings nur die halbe Wahrheit.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat den Vorwurf schon mehrmals erhoben, nun hat sich sein Außenminister Mevlüt Cavusoglu ähnlich geäußert. Im Interview mit „Bild“ beklagte er:

„Wir haben Verträge, wo klar fest gelegt ist, dass es im Oktober die Visa-Freiheit für alle Türken geben wird. Und wenn ich auf diese bestehenden Verträge hinweise, reagieren plötzlich viele gereizt. Aber es kann nicht sein, dass alles, was für die EU gut ist von unserer Seite umgesetzt wird, aber die Türkei dafür nichts bekommt.“

Auf den ersten Blick mag man Cavusoglus Aufregung verstehen. Bei genauer Betrachtung stellt man allerdings fest, dass Cavusoglu, wie auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan, in Sachen Visa-Streit immer nur die halbe Wahrheit sagen. Und dass Journalisten diese Halbwahrheit oft nicht hinterfragen und ihre Gesprächspartner aus der türkischen Regierung damit nicht konfrontieren.

Also schauen wir noch einmal zurück in den März, als die Abmachung getroffen wurde, die nun wieder infrage steht. Damals wurden folgende Verpflichtungen seitens der Türkei festgehalten:

„• Rückkehr/Rückführung aller neuen irregulären Migranten, die von der Türkei aus auf den griechischen Inseln ankommen, auf Kosten der EU;
• Zusammenarbeit mit der Türkei bei allen gemeinsamen Anstrengungen zur Verbesserung der humanitären Bedingungen in Syrien, damit die ansässige Bevölkerung und die Flüchtlinge in sichereren Zonen leben können.“

Die EU verpflichtete sich im Gegenzug zu folgenden Punkten:

„• für jeden von der Türkei von den griechischen Inseln rückübernommenen Syrer Neuansiedlung eines weiteren Syrers aus der Türkei in den EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der bestehenden Verpflichtungen;
• Beschleunigung der Auszahlung der ursprünglich bereitgestellten 3 Milliarden Euro, um die Finanzierung eines ersten Pakets von Projekten vor Ende März sicherzustellen, und Entscheidung über zusätzliche Finanzmittel für die Flüchtlingsfazilität für Syrer;
• Vorbereitung der Entscheidung über die möglichst baldige Eröffnung neuer Kapitel in den Beitrittsverhandlungen auf der Grundlage der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom Oktober 2015;
beschleunigte Umsetzung des Fahrplans zur Visaliberalisierung mit allen Mitgliedstaaten mit Blick auf Aufhebung der Visumpflicht für türkische Staatsangehörige spätestens bis Ende Juni 2016.“

Der endgültige Beschluss für diesen Deal wurde dann auf dem EU-Türkei-Gipfel am 18. März getroffen.

Nicht ohne Bedingungen

Der bereits laufende Prozess der Visa-Liberalisierung sollte also beschleunigt werden, um bereits ab Juni – und nicht wie ursprünglich geplant ab Oktober – mit den Visa-Erleichterungen für Türken beginnen zu können. Die EU-Kommission hatte sogar schon den entsprechend notwendigen Gesetzgebungsakt vorbereitet, so dass eine Visa-Liberalisierung bis Juni hätte umgesetzt werden können. Allein: Die dafür notwendigen Bedingungen müssen erfüllt sein.

Das sind die Bedingungen, von denen Präsident Erdoğan gerade nichts wissen will. Und die sind keinesfalls unklar formuliert. So veröffentlichte die EU-Kommission am 04. März (also wenige Tage vor dem EU-Türkei-Gipfel) ihren zweiten Fortschrittsbericht dazu, welche der 72 notwendigen Bedingungen die Türkei noch erfüllen muss. Und darin heißt es ganz klar – wenn auch sehr höflich formuliert:

„Die Türkei wird dazu eingeladen, ihre Gesetzgebung bezüglich des Terrorismus an den EU-Rechtsrahmen, die Standards des Europarates und die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte anzupassen.“

Die türkischen Anti-Terror-Gesetze sind der Knackpunkt der Verhandlungen, nutzt Präsident Erdoğan diese aus Sicht der EU doch dazu, nicht nur gegen Terroristen, sondern auch gegen politische Gegner vorzugehen. Über Sinn und Unsinn dieser Bedingung lässt sich trefflich streiten, auch mit Blick auf den jüngsten Putschversuch. Klar ist aber: Dass die EU an dieser Bedingung festhält, hat sie nicht nur vor dem EU-Türkei-Gipfel im März klar gemacht, sondern erneut im Mai, als sie eine Übersicht veröffentlichte darüber, welche der 72 Bedingungen noch nicht erfüllt sind. Und auch dort heißt es unter Punkt 65:

„Turkey needs to revise its legislation and practices on terrorism in line with European standards, notably by better aligning the definition of terrorism in order to narrow the scope“

Türkei will Spielregeln ändern

Nun könnte man argumentieren: Was interessiert es denn die Türken, was die EU in rechtlich nicht bindenden Dokumenten veröffentlicht? Es ist zumindest der Beweis, dass die EU stets klar ihre Bedingungen kommuniziert hat und es nun die Türkei ist, die die Spielregeln ändern will – unter dem Vorwand, die EU halte sich nicht an selbige. Dass die Türkei mit diesen Regeln noch auf dem Gipfel im März einverstanden war, beweist nicht zuletzt die Pressekonferenz, auf der der damalige Premier Ahmed Davutoğlu feststellte:

 

„Wir verlangen die Visa-Liberalisierung früher als geplant, denn wir werden mit den Abschiebung früher beginnen, als am 29. November (Anm. d. Red.: erster EU-Türkei-Gipfel) geplant. Ich bin froh, dass wir uns darauf geeinigt haben, die Visa-Liberalisierung bis spätestens Ende Juni, während der niederländischen Ratspräsidentschaft umzusetzen. Wir werden in der Türkei unsere Aufgabe erledigen, indem wir alle rechtlichen Anforderungen erfüllen. Die EU-Seite wird ihre Zusagen einhalten. Und wir hoffen, dass bis spätestens Ende Juni türkische Bürger ohne Visum in den Schengen-Raum werden reisen können.“

Mittlerweile ist August, mit der Visa-Liberalisierung bis Juni ist es nichts geworden. Präsident Erdoğan selbst war recht schnell darin, wieder von Oktober zu sprechen, um es nicht schon wenige Wochen nach dem Gipfel auf einen Showdown hinauslaufen zu lassen. Der könnte nun im Oktober kommen. Denn nach der türkischen Rhetorik der vergangenen Wochen dürfte es Erdoğan schwer fallen, der türkischen Öffentlichkeit eine Niederlage im Visa-Streit zu verkaufen, ohne nicht auch den Flüchtlingsdeal oder Teile dessen aufzukündigen. Dass die Türkei die ausstehenden fünf Bedingungen erfüllt und ihre Anti-Terror-Gesetze entsprechend ändert, danach sieht es jedenfalls nicht aus.