10.11.2017

Verfassungsgerichte und die populistische Bedrohung

Autoritäre und populistische Tendenzen in Europa bedrohen nicht nur Minderheiten und freie Medien, sondern auch die Justiz. Es sei kein Zufall, dass in Ländern mit totalitären Bestrebungen der erste Zugriff dem Verfassungsgericht gelte, sagte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, am Freitag im Rahmen der Konferenz „Formate des Politischen“ in Berlin. Denn dieses sei die letzte Institution, die Presse- oder Versammlungsfreiheit oder die Rechtsstaatlichkeit schützen könne.

Problematische Rechtsstaatsentwicklungen in Ungarn und Polen

Nicht immer erfolgten die Angriffe auf so offensichtliche Weise, dass etwa das Gericht selbst abgeschafft würde oder man die Richter einsperre. Doch auch mit vermeintlich kleinen Maßnahmen könne man ein Gericht gewissermaßen arbeitsunfähig machen, warnt Voßkuhle. „Etwa die Idee, ein Gericht zu verpflichten, alle Sachen nach Eingang zu bearbeiten. Hört sich ganz unspektakulär an, führt aber dazu, dass sie zu den aktuellen Missständen als Gericht nichts sagen können, weil sie in der Regel noch tausend Verfahren haben, die sie vorher erledigen müssen.“

Problematische Entwicklungen der Justiz sieht der Präsident des Bundesverfassungsgericht in Polen oder Ungarn. „Wir erleben in beiden Staaten, dass die Verfassungsgerichte sehr unter Beobachtung geraten sind. In Polen hat es Probleme mit der Besetzung gegeben, dort sind auch diese Techniken der Bearbeitung nach Eingang etabliert worden. Verfassungsgerichtliche Urteile sind nicht umgesetzt worden.“

Kein geeignetes Sanktionsinstrumentarium in der EU

Allerdings befürchtet Voßkuhle, dass die EU-Institutionen derzeit nicht hinreichend gerüstet sind, um Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit in einzelnen Mitgliedstaaten zu begegnen. Er sei skeptisch, „ob das, was wir an Instrumenten haben, reicht“, sagte er. „Wir müssen konstatieren, dass wir uns letztendlich in der Vergangenheit beruhigt haben, das ein solcher Zustand nicht eintreten wird und dass wir deshalb auf die Instrumente auch nicht sehr geachtet haben.“ Man sei einfach davon ausgegangen, dass Derartiges in europäischen Demokratien nicht geschehe.

Insofern werde es „insgesamt schwierig werden“, wenn es nicht gelinge, über politischen Austausch und Gespräche zu einer Lösung zu kommen, so Voßkuhle. „Es handelt sich nämlich nicht um einzelne Personen, es handelt sich um Staaten mit demokratisch gewählten Regierungen. Und da muss man schon sehr vorsichtig sein. Insofern befinden wir uns in einer komplizierten Situation. Wir sind unzufrieden mit dem, was sich da entwickelt, aber wir können das nicht unmittelbar ändern.“