Berlin
Blick auf das Deutschlandradio Hauptstadtstudio im Haus der Bundespressekonferenz. Die Spree gehörte noch zu Ost-Berlin, die eigentliche Mauer stand dort, wo heute der Uferweg ist.. Dauerhaft erinnert eine im Boden eingelassene Pflastersteinlinie an den Mauer-Verlauf. (c) Falk Steiner / Deutschlandradio Hauptstadtstudio
Blick auf das Deutschlandradio Hauptstadtstudio im Haus der Bundespressekonferenz. Die Spree gehörte noch zu Ost-Berlin, die eigentliche Mauer stand dort, wo heute der Uferweg ist.. Dauerhaft erinnert eine im Boden eingelassene Pflastersteinlinie an den Mauer-Verlauf. (c) Falk Steiner / Deutschlandradio Hauptstadtstudio
08.11.2014

Der 09. November 1989 – Wo waren wir?

Von

25 Jahre sind seit der Öffnung der Ostberliner Grenzübergangsstellen vergangen. Das Haus der Bundespressekonferenz am Schiffbauerdamm, in dem heute die Räume des Hauptstadtstudios sind, gab es damals noch nicht. Wenn wir von unserem Balkon nach unten sehen, können wir jeden Tag die Pflastersteine sehen, die den einstigen Verlauf der Mauer markieren. An den Tag, an dem diese Mauer endlich Löcher bekam, hat jeder andere Erinnerungen. Einige unserer Korrespondenten haben aufgeschrieben, wie sie den 09. November 1989 und die Zeit drum herum erlebt haben.

Stephan Detjen: Das Ende der DDR, Marx und der 9.11.1989 – aus südfranzösischer Perspektive

Im Sommer 1989 hatte ich für meine Semesterferien einen Praktikumsplatz beim bayerischen Rundfunk ergattert. Zu den Aufgaben der Hospitanten gehörte es, eine tägliche Auslandspresseschau zusammenzustellen. Das war in normalen Zeiten eine unspektakuläre Routine. Der Sommer 1989 aber war kein normaler Sommer. In den deutschen Zeitungen wurde darüber spekuliert, ob sich die SED-Spitze angesichts der ersten Löcher im eisernen Vorhang und einer wachsenden Oppositionsbewegung doch noch auf Glasnost und Perestrojka einlassen werde. Der Blick in New York Times, Le Monde und Independent Times aber öffnete damals eine noch viel weiter reichende, dramatischere Perspektive. In den Auslandspresseschauen tauchte immer häufiger ein Begriff auf, den in Deutschland noch niemand in den Mund zu nehmen wagte: Wiedervereinigung.  So kam der Praktikant der Nachrichtenredaktion dazu, zum ersten Mal auch Berichte für die prominenteren Magazinsendungen  zu produzieren, in denen mit ungläubigem Staunen vermerkt wurde, welche Dimension das Geschehen in Deutschland bei der Betrachtung aus größerer Distanz annahm.

Ein paar Wochen später war ich selbst im Ausland. Während sich der Protest auf den Straßen von Plauen, Leipzig und Berlin zur friedlichen Revolution steigerte, hatte ich ein Gastsemester an der Université de Provence in Aix-en-Provence angetreten. Am Abend des 9. November hatte mich ein französischer Kommilitone in seine kleine Wohnung in einer verwinkelten Gasse der Altstadt von Aix eingeladen. Während wir zusammen aßen und Rotwein tranken sprachen wir über Deutschland. Man wisse am Morgen nie, wie die Welt daheim am Abend aussehe, sagte ich, ob NVA und Stasi die Entmachtung der alten Eliten weiterhin ohne Gewalt hinnähmen und wo wieder neue Proteste aufflammten. So schalteten wir spät nachts den alten schwarz-weiß-Fernseher meines Freundes ein, um die Spätnachrichten zu sehen – und langsam ordneten sich die flimmernden Lichtpunkte auf der Mattscheibe zu dem wundersamen Bild von tanzenden Menschen auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor.

Ich überlegte in dieser Nacht, ob ich mich in den nächsten Zug setzen und nach Berlin fahren solle. Doch am Morgen des 10. November gab es kaum noch ein Entkommen: in der Universität bildeten sich Trauben von Menschen um die deutschen Gaststudenten und von früh bis spät waren wir in den folgenden Tagen und Wochen in lebhafte Diskussionen darüber verwickelt, was das nun alles für Deutschland und Europa bedeuten würde. Für die Franzosen stand schon bald fest, dass sich hier eine massive – und aus ihrer Sicht alarmierende – Veränderung der Kräfteverhältnisse in Europa anbahnte. Die „Libération“ erschien mit einem ganzseitigen Titelbild, auf dem ein machtvoller Adler seine Schwingen über Europa ausbreitete. In Deutschland wurde im Winter 1989/90 noch über eine Reform des SED-Staates und dritte Wege für die DDR debattiert. In den historischen und staatsrechtlichen Seminaren, an denen ich in Aix studierte, war dagegen längst klar, dass hier ein neues, machtvolles Deutschland zusammenwuchs. Die Frage, über die wir diskutierten, war, ob man ihm mit Angst oder Bewunderung gegenübertreten müsse.

Noch etwas hielt mich damals in Frankreich: ich wohnte zur Untermiete im Haus des (2000 verstorbenen) Historikers und Germanisten Jacques Grandjonc und seiner Frau, der Schriftstellerin Monique Grandjonc. Jacques, ein feinsinniger und auch in der Bundesrepublik hoch geachteter Wissenschaftler, hatte Bücher über die deutsche Exilliteratur und die Internierungslager in Frankreich geschrieben. Zeit seines Lebens hatte er sich außerdem mit der Ideengeschichte der Arbeiterbewegung beschäftigt und gehörte zum internationalen Herausgeberkreis der Marx-Engels-Gesamtausgabe MEGA, die nach der Wiedervereinigung als eines der wenigen DDR Forschungsprojekte in die neuen Wissenschaftsstrukturen der Bundesrepublik überführt wurde. Grandjonc blieb einer der maßgeblichen Autoren und Herausgeber der MEGA, die zum Teil in Aix ediert wurde. Ihm ging es darum, durch die historisch-kritische Edition die Lektüre von Marx und Engels von ideologischen Überformungen zu befreien und den Blick auf die ursprünglichen Entstehungskontexte frei zu legen. Bei den Gesprächen am Tisch der Grandjoncs im südfranzösischen Herbst und Winter 1989 erschlossen sich dadurch auch mir (auf eine für mich ganz neue und überraschende Weise) die Gerechtigkeitsideale, politischen Hoffnungen und gesellschaftlichen Visionen, die den Anfang jenes Staates geprägt hatten, der zeitgleich in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution davongespült wurde.

 

Mauer-Gedenkstätte Bernauer Straße, Januar 2012. Teile des ehemaligen Mauerstreifens an der Bernauer Straße sind heute zugebaut, an anderen wurde die Mauer sogar restauriert. (c) Falk Steiner/Deutschlandradio Hauptstadtstudio

Mauer-Gedenkstätte Bernauer Straße, Januar 2012. Teile des ehemaligen Mauerstreifens an der Bernauer Straße sind heute zugebaut, an anderen wurde die Mauer sogar restauriert. (c) Falk Steiner/Deutschlandradio Hauptstadtstudio

Distanz eröffnet neue Perspektiven. Wenn man sie als befreiende Erweiterung des Sichtfeldes nutzt, werden die Gegenstände unserer Beobachtung schärfer, differenzierter und in neuen Größenverhältnissen wahrnehmbar. Wie ist das heute mit dem zeitlichen Distanzgewinn, den wir nach 25 Jahren auf den Fall der Mauer erreicht haben? Ich bin unsicher: sehe
n wir in immer grobkörnigeren Vergrößerungen und monotonen Wiederholungsschleifen stets dieselben Bilder der Tänzer auf der Mauer, der Trabi-Kolonnen und verdutzten DDR-Wachsoldaten an den Grenzübergängen? Hören wir nur den immer gleich stammelnden Schabowski und die ewig nachhallenden „Wahnsinn“-Rufe? Führen wir immer noch wie auf einer sich endlos drehenden Schallplattenrille die bekenntnisheischende Diskussion über die Frage, ob die DDR nun ein „Unrechtsstaat“ war oder nicht?

Gedenkjahre wirken ambivalent. Sie führen meist und fast unvermeidlich in einen stampfenden Erinnerungsakkord. Journalisten, Wissenschaftler und Zeitzeugen werden zu schwitzenden Gedenkarbeitern. Mit großem Aufwand soll uns die Vergangenheit nahe gebracht werden. Doch am Ende haben Bilderfluten, Bücherberge und grelle Jubiläumsevents oft mehr vernebelt als erhellt. Der 9. November ist das letzte große Datum dieses an Gedenkdaten überreichen Jahres 2014. Es neigt sich ja auch dem Ende zu. Zum Glück. Wir müssen uns die Vergangenheit wieder entrücken. Sie muss uns immer wieder fremd werden, damit wir sie uns neu aneignen können. Erst aus einiger Distanz werden wir auch besser beurteilen können, was wir in diesem Jahr tatsächlich gesehen, erfahren und gelernt haben.

Christiane Habermalz: Geweihte Bockwurst

Ich war im November 1989 äußerst beschäftigt. Ich lebte mein Westberliner Studentenleben und – Herr Lehmann lässt grüßen – es war weiß Gott bis oben hin ausgefüllt. Mit Biertrinken in Kreuzberg, ewiger Wohnungssuche, Streiks um bessere Studienbedingungen, ein bisschen Studieren, philosophischen Betrachtungen über die Kunst und das Leben und Elektrolyte, und ich war schwer verliebt. Eines Morgens, wir waren wie immer erst spät aus der Kneipe zurückgekehrt, stürmte mein Bruder ins WG-Zimmer: „Die Mauer ist auf!“‘

Wir hielten ihn für bescheuert und/oder noch betrunken. Doch er beharrte. Wir machten das Radio an: Die Mauer war auf!
Nichts erschien uns unwirklicher. Die Nachricht platzte in unser beschauliches Inselleben, zu dem die Mauer als wichtiger Identifikationspunkt dazugehörte: Sie verschaffte uns die nötige Distanz zu unseren Elternhäusern in Westdeutschland. Sie besorgte uns immer wieder gerne aufgesuchte Gruselorte, zu denen wir unsere Besucher karrten. Sie war der Garant für die Stabilität unserer geliebten Subkultur mit billigem Bier und Läden wie SO 36, Madonna, Intertank und Milchbar.

Jetzt aber stand die Weltgeschichte vor der Tür, die wollten wir dann doch nicht verpassen. Es war der 10. November 1989, ein Freitag. Wir zogen uns an und fuhren mit der Bahn zur Heinrich-Heine-Straße, von dort gingen wir zu Fuß in Richtung Grenze. Ein Strom von Menschen kam uns entgegen, nur wenige marschierten in Richtung Osten, wie wir. Wir bewegten uns kontrazyklisch. Die Grenzer standen mit ratlosen Gesichtern am Rand, als wir uns an den Schranken vorbeidrückten. Unfassbar, dass uns niemand aufhielt. Aber wer sollte an jenem Tag auch Wessis aufhalten,  die in den Osten wollten?

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Zu Teilungszeiten war die Station Bernauer Straße (U8) ein Geisterbahnhof, direkt unter dem Grenzstreifen gelegen. 2011 wurde dort die Geschichte einer der berühmten Fluchttunnel des Kiezes in einem Comic auf Werbetafeln erzählt.

Wir liefen die Heinrich-Heine-Straße hoch, schon im Osten. Wieder begegneten uns viele Menschen, sahen uns entsetzt an: „Wie, ihr kommt zurück? Ist die Mauer schon wieder zu?“ Grenzenlose Erleichterung, als wir erzählten, wir kämen aus dem Westen. Wir liefen den ganzen Tag durch das graue Ostberlin: Alexanderplatz, Berlin-Mitte, Friedrichstraße – alles Orte, die wir nur aus dem Untergrund kannten, als schummerige Geisterbahnhöfe der Linien U6 und U8. Wir gingen in einen Imbiss und aßen Soljanka und die schlechteste Bockwurst unseres Lebens, aber wir sahen sie an mit gerührtem Blick, denn sie war geweiht. Geweiht durch die Weltgeschichte. Abends kehrten wir heim in unser Inselreich, dessen Tage nun auch gezählt waren, aber das ahnten wir damals noch nicht.

Am nächsten Morgen, das hatten wir uns vorgenommen, wollten wir noch mal rüber. Falls die Mauer dann immer noch auf sein würde.

Frank Capellan: Wenn Geschichte von Geschichte abhält

November 89, Examensstress. Die Dissertation will fertig geschrieben werden. Dokumente auswerten, Bücher wälzen, korrekt zitieren…  – der selbst gesteckte Abgabetermin drängt. Zwischendurch allabendlich Revolution im Fernsehen. Die DDR ist weit weg vom Rheinland, die Bilder von den Montagsdemos aus dem fernen Osten sind umso mehr vor allem eines: unglaublich.

Dann der 9.11. – 22.30 Uhr, später Feierabend, weg vom Schreibtisch, Tagesthemen eingeschaltet, und dann ein ungläubiger Blick auf diese skurrile Schalte zwischen Moderator Hans-Joachim Friedrichs und Robin Lautenbach. Der steht am geschlossenen und menschenleeren Grenzübergang Invalidenstraße und spricht doch über die anderswo geöffnete Grenze. Schabowskis Pressekonferenz sehe ich dann zum ersten Mal. Glauben mag ich seine Botschaft nicht. Was sie auslöst, ist noch nicht wirklich zu erfassen … und wird erst früh am nächsten Morgen klar.

Den 10. November verbringe ich vor dem Radio – erinnere mich an beeindruckende Reportagen von Uli Leidholdt  – und vor dem Fernseher, mit Tränen in den Augen. Und doch bin ich nicht nach Berlin gefahren. Auch zu Silvester nicht. Das verzeihe ich mir nie… Wie unwichtig war doch die Doktorarbeit im Vergleich zur Chance, dabei zu sein, wenn Geschichte geschrieben wird! Feierstimmung gibt es damals aber auch in Köln. Auf der Autobahn werden bald Trabis gesichtet. Begrüßung mit Hupkonzerten und wildem Winken.

Im Frühjahr werde ich dann selber in den Osten fahren, nach Eisenach, Leipzig, Berlin… in der Nacht der Währungsunion vertrinken wir die letzte Ost-Mark in einer Kneipe im Harz. Es war: ne geile Zeit, und – für mich immer noch nicht abgegriffen: einfach „Wahnsinn“!

Falk Steiner: Das fremde Land der Pakete

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Die Leucht-Ballons verlaufen noch bis zum Abend des 09.11.2014 entlang der ehemaligen Mauer – und damit direkt vor dem Deutschlandradio Hauptstadtstudio entlang. (c) Falk Steiner/Deutschlandradio Hauptstadtstudio

Acht Jahre alt, war für mich die DDR ein anderes Land und sehr weit weg, bei mir im tiefen Westen nahe Köln. Ein Land, in das rechtzeitig vor Weihnachten Pakete geschickt wurden. Dagewesen war ich, ein Jahr vor dem Mauerfall, wenn ich mich recht erinnere. Verwandtschaft in Sachsen hatten wir besucht. Es war ein Land hinter einer Grenze, ein Land, in dem tschechische Oblaten gern gegessen wurden, die mir nicht schmeckten, und in dem ziemlich vieles ziemlich grau war. Karl-Marx-Stadt etwa. Das war so grau wie viele der dort herumfahrenden Trabis mit den seltsam unlogisch wirkenden Nummernschildern. Die Verwandtschaft baute gerade ein Haus, Erbpacht, von der Kirche. Ein paar Grundstücke weiter wurde ebenfalls ein Haus gebaut, deutlich weiter fortgeschritten. Dort wohne „der Stasi“, sagten die Verwandten.

Ein fremdes Land für mich, auch wenn die Sprache gleich war. Aber das galt auch für Österreich und Teile der Schweiz. Belgien mit seinen gelb beleuchteten Autobahnen, Dänemark mit seinen quietschenden ‚bløden‘ (weichen) Randstreifen, Frankreich – all solche Länder waren für mich nah. Und diese DDR? Was interessierte sie mich, was ging sie mich an? Weniger Einwohner als Nordrhein-Westfalen, stinkend und grau. Wenig vor dem Mauerfall stand dann ein Teil der Verwandtschaft aus dem Osten sozusagen vor der Tür. Rübergemacht, über Ungarn. Ein jugendlicher Verwandter wohnte erst einmal bei uns. Er wollte meinen Tischtennisschläger benutzen. Meine Begeisterung war gering. Was hatte ich denn mit denen zu tun? Und so sind mir andere Tage im Gedächtnis geblieben, der 9. November 2014 selbst nicht.

Heute, 25 Jahre nach dem Mauerfall,  wohne ich im ehemaligen Osten Berlins und arbeite auf dem ehemaligen Grenzstreifen. Jahrelang wohnte ich in einer Parallelstraße der ehemaligen Mauer. Die Nachbarn lebten dort seit 30 Jahren, immer schon in dem Kiez unweit der – wie sie heute noch manchmal sagen – Dimitroffstraße. Er war auf der Böse-Brücke an der Bornholmer Straße dabei, sie blieb damals lieber zuhause. Sie sind Wendeverlierer, ehemalige BVBler, um die herum sich die Welt in wenigen Jahren komplett umkrempelte. Sanierungsgebiet, Baulückenschluss, Milchkaffeekrisengebiet. Die ehemalige Ost-West-Grenze existiert nicht mehr, physisch. Praktisch hat sie sich um sie herumgeschoben: mit dem Mauerfall kam der Westen zu ihnen, im ehemaligen Ost-Berlin geht er an vielen Stellen etwa bis zum S-Bahn-Ring. Dahinter ist es oft noch irgendwie anders. Nicht mehr DDR, sagen sie, aber auch nicht wie im Westen. Aber auf jeden Fall sei mit dem Osten ja auch Westberlin verschwunden. Sie sind im Osten geblieben, wie sie ihr ganzes Leben geblieben sind, dort im Kiez. Leben von einer kargen Rente, kombiniert mit Stütze, nach der Miete bleibt nicht mehr viel. So lange ich dort wohnte, packte ich Weihnachten für diese Nachbarn immer ein Paket. Mit Süßigkeiten, die für sie heute noch so unerreichbar sind wie damals, als die Mauer noch stand.

Katharina Hamberger: Mauer? Die erste Generation danach

Wie sehr ist Berlin zusammengewachsen? Dieses Bild, aufgenommen vom Astronauten Andre Kuipers von der Internationalen Raumstation ISS im Jahr 2012, zeigt die großflächige Lichtgrenze: die Straßenbeleuchtung im früheren Ost-Berlin ist deutlich gelblicher als im früheren West-Berlin. (c) ESA/NASA 2012

Wie sehr ist Berlin zusammengewachsen? Dieses Bild, aufgenommen vom Astronauten Andre Kuipers von der Internationalen Raumstation ISS im Jahr 2012, zeigt die großflächige Lichtgrenze: die Straßenbeleuchtung im früheren Ost-Berlin ist deutlich gelblicher als im früheren West-Berlin. (c) ESA/NASA 2012

An den 09. November 1989 habe ich keine Erinnerung mehr. Ich weiß nicht mal, ob meine Eltern vor dem Fernseher oder vorm Radio saßen. Meine kleine Schwester anderthalb Monate zuvor auf die Welt gekommen, ich war gerade mal vier Jahre alt, meine andere Schwester zwei – wir hatten wahrscheinlich anderes zu tun. Die Teilung Deutschlands war bei uns, im Südosten Bayerns auch nicht wirklich zu spüren. Erst Jahre später bin ich mit der Mauer in Berührung gekommen: Bei einem Schulfest 1993  – ich war in der dritten Klasse – zum Thema Europa wurde auch ein Heft von den Schülern erstellt. Die älteren Jahrgänge sollten ihre Erinnerungen an den Mauerfall aufschreiben. Da las ich zum ersten Mal, dass es diese Mauer überhaupt gegeben hat. Mein erster Gedanke damals: Wer ist denn so blöd und baut eine Mauer durch ein Land?

Das warum hat sich dann erst über die Jahre aufgeklärt. Mein Vater ist Geschichtslehrer. Einmal brachte er uns von einem Schulausflug nach Berlin eines dieser typischen Souvenirs mit: Ein Stück Mauer in einem kleinen Würfel aus durchsichtigem Plastik. Das hat natürlich für Nachfragen gesorgt. Im Schulunterricht lernt man darüber auch einiges, aber ich glaube so richtig bewusst geworden, was die Teilung Deutschlands bedeutet hat, ist mir das erst geworden, als ich das erste Mal selbst nach Berlin gefahren bin. 2001 war das. Die Stadt war noch eine große Baustelle und mein Vater hatte mir zur Orientierung eine Karte von Berlin mitgegeben. Allerdings eine von vor 1989. Ich wusste also bei jedem Schritt, ob ich mich nun im ehemaligen Osten oder im ehemaligen Westen der Stadt bewege.

Heute wohne ich im Prenzlauer Berg, altes Ostberlin also. Davor habe ich Kreuzberg gelebt, altes Westberlin also. Für mich macht das aber nicht mehr den Unterschied zwischen diesen Stadtteilen aus. Nur wenn mich meine Eltern besuchen, merke ich das noch. Dann erzählen sie von den Fahrten nach Berlin, den Geisterbahnhöfen und den Kontrollen. Deutschland kenne ich nur als ein geeintes Land.