Außenpolitik, Bundesregierung, Medien, Parteien, Rechtspolitik
Kein gutes Bild.
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15.04.2016

Erdoğan ./. Böhmermann: Viele offene Fragen

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Die Bundesregierung hat entschieden: dem Ersuchen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan wird stattgegeben, die Staatsanwaltschaft Mainz kann wegen der „Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten“ ermitteln. Doch nach der Entscheidung sind es nicht weniger, sondern mehr Fragen, die sich stellen.

1. Die Sache mit dem Koalitionsvertrag

Der FDP-Politiker Otto Fricke verweist auf den Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. Dort steht im Kapitel 8 unter der Überschrift Arbeit in der Bundesregierung:

Im Kabinett wird in Fragen, die für einen Koalitionspartner von grundsätzlicher Bedeutung sind, keine Seite überstimmt.

Doch genau das sei passiert, sagen Heiko Maas, Justizminister, und Frank-Walter Steinmeier, Außenminister. Allerdings ohne den Koalitionsvertrag argumentativ anzuführen. Wie kann das sein? Kannten die SPD-geführten Ressorts den Koalitionsvertrag nicht? Oder ist die Frage dann doch nicht von grundsätzlicher Bedeutung?

2. Die Abschaffung des §103 StGB

Die Koalition will den Majestätsbeleidigungsnachfolger nun abschaffen, Inkrafttreten zum Jahresbeginn 2018 – bis dahin dürfte der nun diskutierte Fall juristisch entschieden sein.

Die Koalition muss sich fragen lassen: Wieso erst dann, wenn man ihn schon heute für überholt erachtet?

Der Justizminister Heiko Maas muss sich fragen lassen: Warum eigentlich erst jetzt? Immerhin hat er schon einige Reformkommissionen für verschiedenste Bereiche (Strafprozessordnung, Mord-und-Totschlag-Expertengruppe, Sexualstrafrecht) arbeiten lassen.

Die Bundesregierung insgesamt muss sich fragen lassen: Wenn man schon dabei ist, gäbe es ja noch mehr für die Presse- und Meinungsfreiheit zu tun. Warum also nur diesen Paragrafen streichen? Immerhin gibt es – vergleichbar – ja auch noch den §90 StGB: Verunglimpfung des Bundespräsidenten – in seiner Geschichte und seinem Schutzzweck eng verwandt. Und, schon vergessen, es gab im vergangenen Sommer eine erstaunliche Geschichte rund um die Pressefreiheit und die §§94ff. – „Landesverrat“, „Bundesamt für Verfassungsschutz ./. Netzpolitik“. Auch hier wäre eine gesetzliche Klarstellung dringend an der Zeit, immerhin sorgte auch hier der Interpretationsspielraum zur Demission des damaligen Generalbundesanwaltes.

3. Das Verfahren

Die Staatsanwaltschaft kann nun ermitteln. Sie kann das Verfahren aber auch ohne Gerichtsprozess einstellen – wegen eigener Einschätzung zum Sachverhalt unter besonderer Berücksichtigung der in Frage stehenden Meinungs- und Pressefreiheit, weil sie die Voraussetzungen nicht für erfüllt erachtet…

4. Regierungschaos

Die Kanzlerin Angela Merkel muss sich fragen lassen, warum sie selbst eine inhaltliche Einschätzung vornahm.

Der Regierungssprecher Steffen Seibert hatte am Montag, den 4. April, in der Regierungspressekonferenz mitgeteilt:

Ich möchte Sie über ein Telefongespräch der Bundeskanzlerin mit dem türkischen Ministerpräsidenten Davutoğlu informieren, das gestern Abend stattgefunden hat. Die Bundeskanzlerin und der türkische Ministerpräsident haben in diesem Telefongespräch ausführlich über die Umsetzung der EU-Türkei-Vereinbarungen vom 18. März gesprochen, und sie waren sich darin einig, dass diese Vereinbarungen erfolgreich umgesetzt werden müssen.

[…Absatz zu Flüchtlingsabkommen…]

Gesprächsgegenstand war auch die jüngste Veröffentlichung eines sogenannten Schmähgedichts gegen den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan. Die Bundeskanzlerin und der Ministerpräsident stimmten überein, dass es sich dabei um einen bewusst verletzenden Text handele. Die Bundeskanzlerin verwies auf die Konsequenzen, die der ausstrahlende Sender bereits gezogen hat. Sie bekräftigte noch einmal den hohen Wert, den die Bundesregierung der Presse- und Meinungsfreiheit beimisst.

So viel zu diesem Telefonat.

Hätte sie Herrn Davutoğlu schlicht und einfach mitgeteilt, dass die Qualität von Satire in Deutschland nicht Sache der Regierung ist und dass Presse- und Meinungsfreiheit einen hohen Wert hätten, die aber – wenn Grenzverletzungen vermutet würden – unabhängige Richter an unabhängigen Gerichten prüfen könnten, dann wäre alles unproblematisch. Hat sie aber nicht – oder hat sie zumindest so nicht öffentlich berichten lassen. Warum?

Frank-Walter Steinmeier und Heiko Maas hingegen haben zwar erklärt, die Entscheidung nicht richtig zu finden. Doch die Begründung ist inhaltlich erstaunlich dürr: in besonderem Maße sei [in derartigen Fällen] die Zurückhaltung der Bundesregierung geboten, die Bundesregierung hätte nicht sollen, gerichtliche Prüfung wird ohnehin erfolgen…. Wo aber ist das eigentliche Argument?

5. Die Opposition

Linke und Grüne müssen sich fragen lassen: warum vertrauen Sie nicht auf den Rechtstaat? Warum die frühen Forderungen an Merkel, Erdoğans Gesuch nicht stattzugeben und damit sachgrundlos geltendes Recht nicht anzuwenden? Warum haben sie nicht in der Vergangenheit die Abschaffung des schon in der Vergangenheit zurecht umstrittenen Paragrafen angemahnt oder gar – zu grünen Mitregierungszeiten – abgeschafft?

6. Die CSU

Wo war eigentlich der kleinste Koalitionspartner in der Debatte? Kein Interesse an Pressefreiheit im manchmal so gefühlt gehandhabten kleinen Königreich? Sonst ist doch alles, was eine EU-Unfähigkeit der Türkei zeigen könnte, willkommene Aufmerksamkeit?

7. Die Medien

Bei allen Anfang wie Ende der Woche offenen Fragen: Ist das wirklich in einer Woche mit Koalitionsgipfel mit konkreten Beschlüssen, einer IWF-Tagung, vor einem Obama-Besuch, während an der mazedonisch-griechischen Grenze bei Idomeni auf Flüchtlinge Tränengas und Gummischrot geschossen wird, Flüchtlinge in die Türkei zwangsrückgeführt werden et cetera wirklich so wichtig, wie es gemacht wurde? Oder nicht am Ende doch ’nur‘ eine 3 oder 4 auf der Newsskala?

8. Ahmet Davotoğlu

Auch der türkische Ministerpräsident muss sich fragen lassen: Echt? So schlimm, dass §103 bemüht werden musste?
Und: Ohne die Zustimmung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, so geht die Sage, würde der türkische Ministerpräsident einen solchen Schritt kaum unternehmen lassen.

9. Recep Tayyip Erdoğan

Also muss auch er sich fragen lassen: Hat er dem Land, dessen Präsident er ist, damit nicht einen echten Bärendienst erwiesen? Für das Image der Türkei und ihrer Regenten scheint das Vorgehen und die damit einhergehende Diskussion um Erdoğans Klagefreudigkeit in der Türkei eher nachteilig.

10. Die Öffentlichkeit

Wenn Sie bis hierhin gelesen haben, meinen Sie wirklich, dass das die Zeit wert war? Ist dieser Fall wirklich so viel Aufmerksamkeit wert (Sie brauchen das jetzt nicht kommentieren, wenn Sie bis hierhin gelesen haben, können Sie kaum anders als mit ja antworten…)?

Kommentare zu diesem Beitrag (4)

  1. axaneco | 15. April 2016, 22:43 Uhr

    Schöne Zusammenfassung

    Wirklich, besonders Punkt 10, „Wenn Sie bis hierhin gelesen haben, meinen Sie wirklich, dass das die Zeit wert war?“, das ist schon sehr reflektiert 🙂
    Ich denke, in der Diskussion über Merkels Entscheidung spielt dieselbe Unwilligkeit, den Kontext zur Kenntnis zu nehmen eine Rolle, wie in der Diskussion über Böhmermanns Beitrag selbst. Davon abgesehen ist dies hier der ausgewogenste Beitrag zum Thema, den ich bisher gelesen habe. Danke, Herr Steiner!

  2. piccone | 18. April 2016, 6:57 Uhr

    Erdogan/Böhmermann

    Ich möchte ganz allgemein Stellung nehmen zu der Angelegenheit. Einen ganzen Tag lang war ich wütend auf unsere Bundeskanzlerin; danach erst habe ich den ganzen Text gelesen, den Herr Böhmermann als Satire in die Welt gebracht hat.
    Das Ergebnis: auch ICH fühle mich beleidigt; ich schäme mich dafür, dass ein Deutscher solch schmutzige Gedanken und Worte in die Welt setzt! Das soll Satire sein? Wer sich solche Reime erdenkt, dem spreche ich jegliches Schamgefühl ab.
    Über wen immer Herr Böhmermann solche Worte ausgeschüttet hätte: es ist eine Schande!
    Dieses Gedicht kann man auch nicht damit rechtfertigen, dass der türkische Ministerpräsident viele Schandtaten auf dem Gewissen hat.

  3. zrt10b | 18. April 2016, 15:59 Uhr

    Schöne Zusammenfassung

    Dem Kommentar von axaneco pflichte ich vollkommen bei. Danke Herr Steiner

  4. Markeli | 18. April 2016, 17:54 Uhr

    Grenzen des Wassers

    Hebelt die Satire, selbst das aus,worauf sie sich begründet sieht? Ist der Boden der Satire nicht die Verfassung und ist die Verfassung nicht auch die Achtung der Würde des Menschen. Darf man so einen Menschen verletzen und dann behaupten, das gründet sich auf der Pressefreiheit. Wo ist die Ehre, die Achtung, die Würde eines Menschen ja eines Fremden geblieben. Können wir jetzt alle mit Sarkasmus zerfleischen und jemandes Leumund zerstören? Es ist nun einmal so, sagte die Satire und sprang vom Sprungbrett des Sarkasmus und sagte, ich gründe mich auf der Meinungsfreiheit ohne zu bedenken, das im Becken der Verfassung kein Wasser mehr war, das den harten Aufprall verhindert hätte.