Berlin, Brüssel
Der Wochenmarkt Popincourt in Paris. Foto: Johannes Kulms
Der Wochenmarkt Popincourt in Paris. Foto: Johannes Kulms
19.11.2015

Abgereist ins Ungewisse

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Ein Stadtviertel, in dem er als Teenager ein herrliches Jahr verbracht hat – und es anschließend ein bisschen aus den Augen verlor. Dann kommt ein grausamer Terrorangriff. Unser Korrespondent Johannes Kulms fährt hin, um zu berichten – und schließt das Stadtviertel wieder in sein Herz.

Seit fünf Tagen bin ich in Paris. Seitdem habe ich jeden Tag in Gesprächen und Beiträgen für das Deutschlandradio über die Situation in der Stadt nach den Terroranschlägen berichtet. Obwohl ich viel draußen war und bin, mit vielen Menschen gesprochen habe: Ich habe immer noch das Gefühl, dass ich nicht so richtig begriffen habe, was hier eigentlich passiert ist. Aber hat das überhaupt irgendjemand?

 

Das Bataclan, in dem 89 Menschen starben. Foto: Johannes Kulms

Das Bataclan, in dem 89 Menschen starben. Foto: Johannes Kulms

Der Anruf kam um kurz nach 0 Uhr in der Nacht von Freitag auf Samstag: Ob ich an diesem Wochenende anders als geplant nicht zu einem deutsch-französischen Journalistenseminar in Lille fahren könne – sondern stattdessen nach Paris, um das Korrespondentenbüro zu unterstützen? Bis auf eine leicht schniefende Nase hatte ich nichts einzuwenden. Am Samstagmorgen wache ich um 5 Uhr auf und kann nicht mehr schlafen. Ich schaue auf mein Handy und sehe eine SMS von 1:45 „Kauf dir ein Flugticket und mach dich auf den Weg…“ steht da drin. Ich schaue noch mal auf mein Handy und sehe, dass die Tagesschau-Seite von 100 Opfern in Paris spricht. Ich habe keine Lust aufzustehen. Ich habe auch keine Lust nach Paris zu fahren denke ich in diesem Moment. Und stehe auf.

Schnell einen Koffer gepackt mit ein paar Sachen. Weil die Wäsche noch nicht trocken ist, werden noch drei feuchte Pullover eingepackt und zwei Kleiderbügel. Um 8:30 steige ich in Berlin in den Zug. Die Fahrgäste sind etwas irritiert, als ich im Abteil anfange, Kleiderbügel aufzuhängen. Aber das ist jetzt egal. Um viertel vor zwei umsteigen in Mannheim. Als ich auf dem Bahnsteig stehe und auf den ICE nach Paris warte, denke ich: Eigentlich sehe ich dieses Fahrtziel jedes Mal zu gerne auf der Anzeigetafel. Nun bin ich unschlüssig.

 

Bahnhof Mannheim: der Zug nach Paris. Foto: Johannes Kulms

Bahnhof Mannheim: der Zug nach Paris. Foto: Johannes Kulms

Der Zug fährt pünktlich los, die Fahrt verläuft problemlos, fast schon irritierend normal – keine Polizisten und sehr fröhliche Durchsagen des Schaffners. Der einem am Ende auch noch ein „Willkommen in Frankreich“ mitgibt. Mit der Metro geht es am Samstagnachmittag von der Gare de L’Est ins 16. Arrondissement ins Deutschlandradio-Studio. Die Terroranschläge sind noch keine 24 Stunden her. Wirkt irgendwas unterwegs anders als sonst? Nein, denke ich. Kurze Lagebesprechung mit der Kollegin und dem Kollegen im Büro. Dann die Entscheidung: Ich gehe einfach mal raus. Um 19 Uhr sollen sich an der Place de la République Menschen versammeln am Denkmal, um der Attentats-Opfer zu gedenken. Dabei gilt jetzt ein Versammlungsverbot.

Tatsächlich kommen Leute dorthin. 100, vielleicht 150 haben sich auf der Mitte des großen Platzes versammelt, zünden Kerzen an und legen Blumen nieder. Eine Insel des Gedenkens, eine Insel der Einkehr. Denn rundherum rollt fleißig der Pariser Autoverkehr. Kurze Zeit später dann der erste dicke Kloß im Hals. Und das erste Mal, dass ich mit den Tränen kämpfe. Plötzlich ertönt John Lennons „Imagine“. Ein Mann, der aussieht wie ein Hippie, hat einen Lautsprecher mitgebracht. Ich bin ihm dankbar dafür.

Dann mache ich mich auf zum Bataclan. Das Konzerthaus, bei dem es die meisten Opfer bei den Anschlägen gegeben hat, ist vielleicht einen halben Kilometer entfernt von der République. An diesem Samstagabend ist das Konzerthaus umzingelt – von den Journalisten. In einem ca. 50m-breiten Radius rund um das Gebäude stehen Absperrungen. Davor Fernsehwagen. Generatoren und Reporter, die Aufsager und Liveschalten in die ganze Welt machen. Natürlich auch Kollegen von Print und Radio.

 

Blumen für die Opfer der Anschläge. Foto: Johannes Kulms

Blumen für die Opfer der Anschläge. Foto: Johannes Kulms

Das Bataclan sieht irgendwie vollkommen normal aus. Gespenstisch normal: Die tagsüber so bunt leuchtende Fassade ist zwar dunkel. Dafür brennt im Erdgeschoss des Gebäudes Licht. Und da ist noch die Leuchttafel, die für das Konzert von Freitagabend wirbt. Aber der ca. 2m hohe Sichtschutz rund um das Gebäude signalisiert: Hier ist was passiert. Dahinter sind 89 Menschen gestorben. Niedergemetzelt mit Kalaschnikows. In die Luft gesprengt durch Sprengstoffgürtel. Kann man sich das vorstellen? Ich kann es nicht.

Sowieso: Das Vorstellen und Begreifen wird in den nächsten Tagen eine große Herausforderung. Das 11. Arrondissement, in dem auch das Bataclan liegt, ist für mich eine besondere Gegend. Ein paar Straßen weiter, in der Avenue Parmentier habe ich nach dem Abi für ein Jahr gewohnt. In der Rue Léchevin habe ich gleich um die Ecke bei einer französischen NGO einen Freiwilligendienst gemacht. Höchstens fünf Minuten geht man zu Fuß von diesen beiden Punkten runter auf den Boulevard Richard-Lenoir. Zum Markt oder zum Bataclan. Ich habe das Konzerthaus nie betreten. Aber jedes Mal beim Vorbeigehen fasziniert betrachtet. Diese Gegend, insbesondere die Rue Oberkampf mit ihren vielen kleinen Geschäften – den ganzen Metzgern, Bäckereien, Zeitschriftenläden, Blumengeschäften, kleinen asiatischen Feinkostläden, den Fischhändlern – kommt mir bis heute wie eine Dorfstraße vor. Und dann erst der Wochenmarkt Popincourt…

Ich habe mich während meines Freiwilligendienstes im 11. Arrondissement immer sehr wohl gefühlt, gerade, weil es so schön gemischt ist. Viele junge Menschen sind hier in den letzten Jahren hergezogen, viele gehen aus in die Kneipen und Bars weiter oben in der Rue Oberkampf oder der Rue Jean-Pierre-Timbaud. Nun ist das Viertel möglicherweise gerade auch wegen der jungen Leute gleich mehrfach zum Ziel der Terroristen geworden. Und so werden die nächsten Tagen zu einem irritierenden Spaziergang: Was ist anders als vor zehn Jahren für mich? Vor allem aber: Was ist anders als sonst?

Eine immer wiederkehrende Frage ist aber auch: Wie soll man journalistisch mit so einer Situation und so einem Thema umgehen? Wo geht man hin? Und vor allem: Welche Fragen stellt man eigentlich nach einem so schrecklichen Ereignis? „Tja, was soll man dazu noch sagen?“ sagt mir ein Mann in den 50ern, den ich an einem Morgen in dem Café L’Eventail treffen, wo er gerade mit einem Freund an der Bar steht und einen Kaffee trinkt. 100 Meter sind es von hier den Boulevard runter bis zum Bataclan.

 

Vor dem Bataclan wurde ein Sichtschutz aufgebaut. Foto: Johannes Kulms

Vor dem Bataclan wurde ein Sichtschutz aufgebaut. Foto: Johannes Kulms

Die beiden Männer wohnen um die Ecke. Und sind von den ganzen Medienleuten genervt. Die würden oft nur so voyeuristische Fragen stellen. Ein Interview geben wollen sie mir nicht. Stattdessen bestehen sie darauf, mir einen Kaffee zu spendieren. Und meinen, die Presse solle doch endlich mal mehr die Frage nach der Verantwortung der Politik stellen. Dann kommt eine ältere Dame rein. Sie sei extra mit dem Taxi aus dem 15. Arrondissement her gekommen um Blumen für die Opfer niederzulegen. Auch sie findet das mit den Journalisten nicht in Ordnung. Sie könne sich nur schwer bücken. Gerade als sie die Blumen niederlegen wollte, hätten sich sofort mehrere Kameras auf sie gerichtet…

Auch ich denke immer wieder: Ist die Frage, wie die Menschen in Paris mit den Terroranschlägen „umgehen“ angebracht? Genauso wie die Frage, ob und wenn ja, wie die Attentate Paris verändern werden? Lässt sich so etwas überhaupt beantworten? Und doch tauchen diese Fragen immer wieder auf. Ausgesprochen oder unausgesprochen. Zum Beispiel abends in der Pariser Wohngemeinschaft, in der ich gerade übernachte. Da werden schon am Tag nach den Attacken Witze gemacht über die Taten. „Das ist so traurig, dass man schon wieder lachen muss“, sagt mir einer der Tischgäste. Was bleibe einem auch anderes übrig, wenn man die ganze Nacht zuvor vor dem Fernseher gehockt habe?

Ja, der Humor und die Angst: Eine der seltsamsten Eindrücke für mich ist die zufällige Begegnung mit einer Pariser Komikertruppe am Dienstagabend. Zufällig, weil sie nicht verabredet war. Und ich erst nach einer Viertelstunde begriff, warum die vier jungen Männer nicht aufhörten, einen Spruch und einen Witz nach dem anderen mir ins Mikrofon zu schleudern. Ob lustig oder nicht. Gerade weil das Gespräch dann mit einem Schlag so ernst wurde, hat es mich besonders beeindruckt. Immer wieder erlebe ich Momente, wo ich denke: Das wirkt jetzt irgendwie nicht mehr so ganz passend nachdem, was in Paris passiert ist. Zum Beispiel als ich das Plakat eines schwedischen Möbelherstellers sehe. „Bringen Sie Ihnen bei, alles zu zerstören“ lautet der Spruch neben einem Stapel Plastikbecher für Kinder.

 

Werbung: "Bringen Sie Ihnen bei, alles zu zerstören". Foto: Johannes Kulms

Werbung: „Bringen Sie Ihnen bei, alles zu zerstören“. Foto: Johannes Kulms

Oder die Fahrt mit der Métro. Plötzlich steigen zwei MusikerInnen ein: Sie mit Mikro, er mit Akkordeon. Und dann geht es los. „Comme si, comme ca“ schwebt nun durch die Wagen und das ist erst der Auftakt. Klingt gar nicht so schlecht. Mit „Hit the road Jack“ geht es weiter.

 

 

Aber irgendwie scheint es die meisten noch weniger zu interessieren. Die meisten Gesichter der Metrogäste sehen entweder müde oder traurig aus. Oder täusche ich mich?
Nach ein paar Tagen in Paris merke ich: Ich habe mich an die Situation gewöhnt. Das gilt aber vor allem auch für das mulmige Gefühl. Oder manchmal einfach nur Angst. Zum Beispiel wenn ich abends mit Freunden was essen gehe und mich dabei ertappe, wie ich auf der Bistroterrasse immer wieder auf die Straße schaue, wer da so vorbeigeht und vorbeifährt. Oder als ich wenige Sekunden vor einer geplanten Schalte mit dem Deutschlandfunk eine Art Panikausbruch am eigenen Leib miterlebe – der sich zum Glück als Fehlalarm herausstellt.

 

Restaurant Cannibale. Foto: Johannes Kulms

Restaurant Cannibale. Foto: Johannes Kulms

Nach sechs Tagen in Paris und in „meinem“ elften Arrondissement stelle ich fest: Ich freue mich darüber, wenn ich Sachen sehe, die mich früher latent genervt haben: Autofahrer, die einem einfach so bei grüner Fußgängerampel beinahe auf die Füße fahren. Oder ein schöner Hundehaufen auf dem Bürgersteig! Ich mag das, weil ich denke, wie schön, eine Konstante, Paris wird sich nicht verändern! Ich kann mich andererseits nicht daran erinnern, jemals so viele junge Menschen auf der Straße gesehen zu haben. Und so viele offene und herzliche Gespräche geführt zu haben. Das 11. Arrondissement und Paris leben! Wie gerne würde ich jetzt einfach hierbleiben.

Kommentare zu diesem Beitrag (4)

  1. Georg | 21. November 2015, 10:35 Uhr

    Vive la merde de chien

    Dank dir für die ermutigenden persönlichen Eindrücke aus dem 11ten Jojo! Grotesk sind die Ereignisse allemale, kann den Ansatz mit dem Humor der Pariser daher gut nachvollziehen (Attentäter sprengt sich vorm stade de france zw zwei Mülltonnen in die Luft, die andere reisst nen Hund mit in den Tod etc). Bleibt nur zu hoffen dass wir Berliner nicht auch bald in die Situation kommen, Trauer mit Humor zu bewältigen zu müssen. Besten Gruß jojo

  2. Frederik | 22. November 2015, 16:19 Uhr

    Danke

    Vielen Dank für diesen authentischen Bericht!

  3. Frederik | 22. November 2015, 16:30 Uhr

    Danke

    Danke für diesen authentischen Bericht!

  4. Frithjof Wilke | 23. November 2015, 21:33 Uhr

    Wer kanns begreifen? Danke.