Berlin, Bundesregierung, Bundestag, Familienpolitik, Innenpolitik, Parteien
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (l, SPD) und Unionsfrakionsvorsitzender Volker Kauder (CDU) / Foto: Wolfgang Kumm/dpa
18.02.2016

Asylpaket II oder: eine lange Geschichte der Missverständnisse

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Nun wird tatsächlich am Freitag das Asylpaket II in den Bundestag eingebracht. Der Weg bis dahin dauerte über drei Monate und lässt sich so zusammenfassen:  Streit, Einigung, Streit, Einigung, Kabinettsbeschluss, Streit, Einigung. Das lag vor allem daran, dass nie ganz klar war, wer, was, wann gesagt oder nicht gesagt hatte, nicht zugehört oder etwas bewusst in seinem Sinne ausgelegt hatte. Dazu die Chronologie:

November 2015

Es ist die erste Woche im November 2015. Das Treffen der Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD steht kurz bevor. Sie wollen das Asylpaket II nun endlich auf den Weg bringen. Als einer der Streitpunkte gilt bis dahin, ob die Koalition nun sogenannte Transitzonen, eine CSU-Idee, will oder nicht. Während die Debatte läuft, will ein Minister der Bundesregierung einem weiteren Punkt des Asylpakets schon mal vorgreifen und gibt eine Anweisung nach Nürnberg: Thomas de Maiziere, Bundesinnenminister, weist das Bundesamt für Migration, das BAMF an (wie genau, ist nicht bekannt), dass von nun an auch Syrer wieder eine Einzelprüfung erhalten sollen und damit auch wieder unter den sogenannten subsidiären Schutz fallen können. Eine Entscheidung, über die er offenbar kaum jemanden in Kenntnis setzt – was er auch nicht muss. Eine solche Anweisung kann er als Innenminister geben. Aber in diesen Zeiten wäre es wohl geboten gewesen, das klar zu kommunizieren. Das zeigt sich noch am Ende der Woche.

 

05. November 2015: Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Horst Seehofer einigen sich beim Asylpaket II. Der Zwist in der Koalition scheint beigelegt zu sein. Aus den Transitzonen wurden besondere Aufnahmeeinrichtungen, damit konnte auch die CSU leben. Und dann war da noch der Punkt mit dem Familiennachzug:

 

Zur besseren Bewältigung der aktuellen Situation soll der Familiennachzug für Antragsteller mit subsidiärem Schutz für einen Zeitraum von zwei Jahren ausgesetzt werden. Die erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen schaffen wir noch in diesem Jahr.

 

Allerdings – und das verhinderte auch mitunter, dass die gesetzlichen Voraussetzungen noch im selben Jahr, also 2015, geschaffen wurden – war offenbar beiden Seiten (da die Union, dort die SPD) nicht klar, um welche Gruppe Menschen es sich dabei genau handelt. Bis dahin war die Gruppe der subsidiär Schutzbedürftigen noch sehr klein, fasste rund 2000 Personen. Die SPD dachte, es bleibt dabei, die Union ging vom Gegenteil aus. Das sollte sich aber erst einen Tag später herausstellen.

 

06. November 2015: Früh morgens am militärischen Teil des Flughafens Tegel. Bundesinnenminister Thomas de Maiziere startet in Richtung Tirana, Albanien. Er fliegt mit einer kleinen Maschine, an Bord neben dem Minister: Mitarbeiter und zwei Journalisten. Auf dem Hinflug setzt sich de Maiziere zu den Journalisten und erzählt, beantwortet Fragen. Alles im Hintergrund, „unter 3“ – der Inhalt des Gesprächs darf also nicht berichtet werden. Der Innenminister fliegt nach Albanien, um sich dort unter anderem mit seinem Amtskollegen zu treffen und um ein Signal in das Land zu senden: Wer aus Albanien kommt und in Deutschland einen Asylantrag stellt, hat so gut wie keine Chance, dass dieser bewilligt wird. Am Abend des selben Tages soll er zurück gehen. De Maiziere trifft am Flughafen noch mit Menschen zusammen, die aus Deutschland abgeschoben wurden, gibt eine Pressekonferenz und steigt danach ins Flugzeug. Es ist abgesprochen, dass er über den Wolken noch ein Interview gibt. Der Kollege von ntv.de vereinbart mit dem Sprecher des Ministers, dass das Interview, wie so üblich bei geschriebenen Interviews, noch autorisiert wird. Mit mir als Deutschlandradio-Korrespondentin wird so eine Vereinbarung nicht getroffen – bei Hörfunk-Interviews ist eine nachträgliche Änderung nicht üblich und auch gar nicht notwendig. Ich mache aber klar, dass ich das Interview – im Gegensatz zu dem ntv.de-Kollegen – nicht komplett verwende, sondern nur einzelne O-Töne. Wir sprechen also über Albanien und warum de Maiziere dort hin geflogen ist. Außerdem ist vereinbart, dass wir ihn auch zu einer Sache aus dem Hintergrundgesprächs vom Hinflug fragen dürfen, nämlich den subsidiär Schutzbedürftigen. Und de Maiziere sagt Folgendes:

 

Andere Staaten geben in solchen Lagen auch nur eine Sicherheit für eine begrenzte Zeit, und das werden wir in Zukunft mit den Syrern auch tun. Indem wir ihnen sagen, ihr bekommt Schutz, aber den sogenannten Subsidiären Schutz. Das heißt: zeitlich begrenzt und ohne Familiennnachzug. Die Zahl ist also jetzt klein, sie wird aber wieder größer werden, wenn wir sie auf Syrer erstrecken.

 

Er macht also klar: Die Union will auch, dass Syrer wieder subsidiären Schutz erhalten können und damit auch für sie der Familiennachzug ausgesetzt werden kann. Noch aus dem Flugzeug soll der O-Ton dazu ins Deutschlandradio-Hauptstadtstudio geschickt werden. Das W-Lan versagt jedoch, aber die Kollegen sind bereits per Email informiert. Also wird der Ton vom Taxi aus geschickt und läuft so noch in den „Informationen am Abend“ des Deutschlandfunks – im Hintergrund ist das Brummen des Flugzeugen zu hören.  Andere Medien greifen ihn auf. Und auch bei der SPD und im Bundeskanzleramt kommt die Nachricht an. Die Sozialdemokraten wettert, das sei mit ihnen so nicht vereinbart worden. Und auch die Union gibt sich überrascht, de Maiziere wird ins Kanzleramt bestellt und rudert keine zwei Stunden nach der Landung in Berlin zurück. Sein Ministerium lässt über eine Pressemitteilung verbreiten:

 

Eine entsprechende Änderung der Entscheidungspraxis des BAMF ist noch nicht erfolgt. Damit bleibt es bei der bisherigen Praxis. Alle Änderungen werden zuvor in der Koalition besprochen.

Anfang dieser Woche war das BAMF gebeten worden, seine Entscheidungspraxis betreffend syrische Staatsangehörige dahingehend umzustellen, dass diese subsidiären Schutz erhalten, soweit kein individuelles Verfolgungsschicksal vorliegt. Da dies im Lichte des Beschlusses von CDU, CSU und SPD, den Familiennachzug bei subsidiär Schutzberechtigten für zwei Jahre auszusetzen, nun neuen Gesprächsbedarf ausgelöst hat, bleibt es bei der bisherigen Praxis.

 

Und auch de Maiziere äußert sich zwei Stunden später ähnlich. In dem Interview, das ntv.de später veröffentlicht, wird die entsprechende Passage entsprechend geändert. Zu ein und derselben Frage gibt es nun zwei Wahrheiten. Man versucht von Unions-Seite nun zu kitten, was zu kitten ist. Peter Altmaier sagt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am darauffolgenden Sonntag, er habe von der Entscheidung de Maizieres nichts gewusst, das sei außer jenem und dem BAMF bekannt gewesen. Er nimmt damit alle anderen außer den Innenminister aus der Schusslinie. Die Wogen lassen sich dennoch nicht so schnell glätten, das Vertrauensverhältnis in der Koalition hat einen weiteren Knacks.

Zurück bleibt die Frage, was an jenem 5. November im Kanzleramt passiert ist. Hat Gabriel einfach nicht genau zugehört? War ihm vielleicht die Tragweite gar nicht klar (eine Formulierung, die im Zusammenhang mit dem Asylpaket II von Seiten der SPD nochmal fallen wird)? Hat die Union das einfach erst gar nicht kommuniziert, was sie meint, entweder weil sie davon ausging, dass der SPD das klar sein würde oder einfach, weil der Union klar war, dass die SPD sonst nicht mitgehen würde?  Rekonstruieren lässt sich das nicht mehr. (Der 6. November und das darauffolgende Wochenende nochmal in Zitaten und O-Tönen hier)

 

Dezember 2015/Januar 2016

Und so vergeht das Jahr. Es folgt Parteitag auf Parteitag. Jede Seite darf nochmal darlegen, wie sie das Asylpaket II am Ende gerne verabschieden würde. Und Mitte Januar gibt es immer noch keine Einigung.  Aber sie soll kommen. So ist zumindest der Plan. Also wird weiter verhandelt. Vorschlag um Vorschlag wird in der Großen Koalition debattiert und wieder abgelehnt. Vor allem die CSU will nichts an der Vereinbarung vom November verändern.

 

Januar 2016

28. Januar 2016: Der Tag gleicht einem Sitzungsmarathon. Unter anderem treffen sich die Ministerpräsidenten der Länder in Berlin und auch die drei Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD. Der Streit um das Asylpaket II soll nun endlich vom Tisch. Und so kommt es. Vorerst zumindest.

 

Die Verständigung ist so, dass wir den Familiennachzug für sogenannte subsidiär Schutzbedürftige […] für zwei Jahre aussetzen.

 

Das durfte SPD-Chef Sigmar Gabriel damals verkünden. Von einem Kompromiss war die Rede, wobei es sich aber wohl eher um eine für die SPD gesichtswahrende Formulierung handelt. Denn die Einigung ist die selbe Einigung, wie im November, ergänzt um drei Punkte, die aber der Union nicht wirklich weh tun dürften:

 

  1. Nach zwei Jahren soll wieder die bisherige Rechtslage für subsidiär Schutzbedürftige gelten.
  2. Sollte es Kontingente geben, sollen diejenigen bevorzugt werden, die bereits Familienangehörige in Deutschland haben.
  3. In einem weiteren Gesetzgebungsverfahren soll es mehr Rechtssicherheit und Verfahrensvereinfachungen für auszubildende Flüchtlinge und ausbildende Betriebe geben.

 

Februar 2016

03. Februar 2016: Das Asylpaket II geht ins Kabinett, der Gesetzentwurf wird von allen Ressorts angenickt.

 

05. Februar 2016: Die ARD berichtet, es gebe in der SPD-Fraktion Widerstand gegen den Gesetzentwurf zum Asylpaket II. Der Grund: Auch für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz soll der Familiennachzug für zwei Jahre ausgesetzt werden. (Auch hier handelt es sich bislang um eine sehr kleine Gruppe. 2014 waren es nur 214 und im vergangenen  Jahr nur 105 Personen, wobei die vollständigen Zahlen der Entwicklung seit Sommer 2015 noch nicht vorliegt. Zudem dauert das Verfahren von Asylantrag bis zur Einreise der Eltern meist so lange, dass viele Jugendliche schon 18 Jahre alt sind, wenn die Eltern nach Deutschland kommen, was diese wiederum nicht mehr dürfen, wenn das Kind am tag der Einreise volljährig ist.) SPD-Chef Gabriel ließ verlauten, er habe erst durch die ARD-Recherchen davon erfahren, mit ihm sei das nicht verabredet worden. Hat also das für den Gesetzentwurf zuständige Innenministerium nochmal kurzfristig etwas geändert und/oder haben die SPD-Ministerien, die den Gesetzentwurf ja abgesegnet haben, nicht genau gelesen? Fragen, die sich im Nachhinein mal wieder nicht abschließend beantworten lassen.

08. Februar 2016: Der Streit zwischen Union und SPD ist wieder aufgebrochen. Dieses Mal nimmt jedoch das Familienministerium die Schuld dafür auf sich. Schwesigs Ministerium war der Punkt, dass Minderjährige bei der Ausetzung des Familienennachzuges ausgenommen werden, besonders wichtig und hat den Gesetzentwurf dementsprechend interpretiert. Sprecherin Verena Herb sagt in der Regierungspressekonferenz:

 

Was ich sagen kann, ist, dass es uns aufgefallen ist und die Tragweite der Veränderung und so, dass wir das anders eingeschätzt haben.

 

Am Nachmittag desselben Tages präzisiert das Familienministerium:

 

Das internationale Recht lässt die Einschränkung des Elternnachzugs nicht zu. (u.a. Art 3 und 22 der UN-Kinderrechtskonvention und Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls und der Zusammenführung unbegleiteter Minderjähriger mit ihren Eltern). Daher war unsere Einschätzung bei der Auslegung des Vorschlags des BMI, dass nicht gegen internationales Recht verstoßen wird und der Elternnachzug möglich bleibt.

Selbst wenn man sich der Auffassung anschließen würde, dass der Elternnachzug von der Einschränkung  mitumfasst wäre, dann wäre in jedem Fall der Nachzug zu unbegleiteten Minderjährigen ein Härtefall, weil die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohl und das ganz besondere Schutzbedürfnis eine humanitäre Aufnahme begründen würde.

 

Eine Einigung sollen nun Bundesinnenminister Thomas de Maiziere und Bundesjustizminister Heiko Maas herbeiführen.

 

11. Februar 2016: Die Einigung ist da. Und es ist, wie bereits bei der ersten Einigung zum Asylpaket II im Januar: Alles bleibt, so wie es ist. Eine Ausnahmeregelung für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge wird es nicht geben. Man stellt aber nochmal kalr, dass es eben eine Härtefallregelung gibt, die auch weiter Anwendung finden wird. Das Innenministerium verschickt eine Pressemitteilung, in der es heißt:

Wie in dem am 3. Februar vom Bundeskabinett beschlossenen Asylpaket II gesetzlich klargestellt ist, schließt die Aussetzung des Familiennachzugs nicht die Aufnahme von Familienmitgliedern aus humanitären Gründen nach den §§ 22, 23 AufenthG bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen aus. Demnach kann nach § 22 S.1 AufenthG in begründeten Fällen bei dringenden humanitären Gründen (Härtefälle) eine Aufnahme der Eltern subsidiär geschützter Minderjähriger aus dem Ausland erfolgen. Über das Vorliegen eines Härtefalls entscheidet das Auswärtige Amt im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern.

 

19. Februar 2016: Das Asylpaket II wird in 1. Lesung in den Bundestag eingebracht. Nach Vorstellung der Großen Koalition soll das Gesetz im Eilverfahren verabschiedet werden.