Brüssel, EU-Kommission, Europäischer Rat, Europaparlament, Kommentare, Wirtschaftspolitik 27.10.2016

Kommentar: CETA-Scheitern – Der Fehler liegt viel tiefer

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Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten zeigen sich, je nach Sichtweise, als unfähig, handlungsunfähig oder verhandlungsunfähig. Doch das Problem ist nicht primär das CETA-Abkommen. Und wer sich nun über den Widerstand der Wallonen freut, der hat etwas grundlegend missverstanden. Eine Erwiderung auf Thomas Otto. 

Die EU hat ein grundlegendes Problem: sie wird von vielen Bürgern nicht verstanden. Und sie hat ein noch viel grundlegenderes Problem: sie versteht viele ihrer Bürger nicht, die sie nicht verstehen.

Natürlich kann und darf man mit Fug und Recht auf Belgien und die Wallonen schimpfen. Denn deren Einwände hätten viel früher in den Prozess einfließen und geklärt werden müssen und insbesondere die belgische Regierung muss sich fragen lassen, warum das nicht geschehen ist. Klar ist aber auch: niemals werden auf europäischer Ebene alle Wünsche und Interessen aller Akteure, ob in Staats- und Verwaltungsgliederungen, in politischen Gruppierungen, in Interessenvertretungen oder auf individueller Ebene gedacht gleichermaßen zur vollen Zufriedenheit aller Beteiligten berücksichtigt werden können. Doch das Verhandlungsergebnis mit Kanada ist natürlich nach dem derzeitigen Modus demokratisch legitimiert – genauso, wie auch die Blockade durch die wallonische Regionalregierung in sich demokratisch legitimiert ist.

Sind es vielleicht gar nicht die Inhalte von CETA, um die es geht? Sondern doch eher die Mechanismen der Europäischen Union, die so komplex sind, dass sie vor allem den politischen Profis überhaupt verständlich sind, und in dem die wallonischen Interessen vielleicht auch tatsächlich keine ausreichende Berücksichtigung fanden?

Als ich in der vergangenen Woche zu einem Termin in Brüssel war, sagte Günther Oettinger, der deutsche EU-Kommissar, einen bemerkenswerten Satz: „Ich muss doch, wenn ich halbwegs arbeiten will, mich auf die Meinung von Gewerkschaften und Verbänden und Kammern und Institutionen verlassen können.“ Der Gegenstand um den es ging, hat mit CETA nichts zu tun. Aber: die EU Kommission und die Mitgliedstaaten haben ein offensichtlich erstaunliches Verhältnis zu dem, was sie selbst „evidence based policy making“ (etwa: „belegbasierte Politikgestaltung“) nennen.

Denn Belege, das sind in Brüssel oft auf mehreren Ebenen vorkondensierte Stellungnahmen europäischer Verbände, die bei ihren nationalen Mitgliedern Input abgefragt haben, die wiederum bei ihren Mitgliedern Input abgefragt haben, welche dafür in ihren Häusern nachgehört haben sollen. Und mit jeder Stufe wird dabei der Abstraktionsgrad erhöht, etwas politischer Spin, etwas innerorganisatorischer Kompromiss hinzugefügt. Und am Ende kommt in Brüssel ein Input an, der, freundlich formuliert, einen sehr hohen Abstraktionsgrad aufweist. Und, weil das die Kernaufgaben der EU sind, wird dieser Abstraktionsgrad auch noch in passende Kästchen hineinformatiert: alles unterliegt der argumentativen Subsumtion unter Binnenmarkt (nach Innen) und Handel (nach Außen). Nun könnte man denken, dadurch, dass alle Akteure dieses Spiel mitspielen – ob Industrie, NGOs oder Ländervertretungen – würden sich diese Effekte im Ergebnis ausgleichen. Das kann sogar durchaus in vielen Fällen zutreffen.

Aber mit der Realität auf dem Boden der Europäischen Union, die die Menschen wahrnehmen, hat all das nicht mehr viel zu tun. Sie sehen ein Dickicht an EU-Verwaltungsvorgängen mit angeschlossenem Verhandlungswirrwarr. Und das ist die Schuld der Mitgliedstaaten, die diese Konstruktion verhandelt haben. Nur sie sind in der Lage, das tatsächlich zu lösen. Der Weg zu einer neuen Handlungsfähigkeit ist dabei nicht die in der Sache berechtigte Kritik an der belgischen Regierung und der Wallonen durch Kommission und vor allem die Mitgliedstaatsregierungen, die sich sonst jeder gern selbst der nächste sind. Sondern ein grundlegend anderes Verständnis der Funktionsweise der Europäischen Union. Die derzeitigen Probleme der EU liegen darin begründet, dass die Prozesse für die Bürger unverständlich, Verantwortung nicht klar zurechenbar und der effektive Schutz der Interessen von Minderheitenmeinungen für viele keineswegs so klar geregelt ist, wie das für eine moderne, repräsentativ demokratisch verfasste politische Entität mit staatlicher Handlungsqualität sein müsste. Es geht nicht darum, noch mehr Konsultationsprozesse, noch mehr Komplexität, noch mehr Beteiligungsebenen zu schaffen – sondern der EU klare Konturen in Funktion und Zweck zu geben.

Das nachhaltig zu ändern würde wohl nicht am Widerstand der 3,6 Millionen Wallonen scheitern. Aber zum Beispiel an 5,4 Millionen Slowaken. Während der slowakische Wirtschaftsminister natürlich gerne von Belgien eine Lösung der Situation bei CETA einfordert.