Außenpolitik, Bundesregierung, Innenpolitik, Sicherheitspolitik
Kanzleramt am Morgen (c) Ansgar Rossi
Kanzleramt am Morgen (c) Ansgar Rossi
17.08.2016

Das unheimlich ungeheime „Büroversehen“?

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Der Aufruhr im politischen Berlin ist groß. Auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke antwortete die Bundesregierung – und das, wie die Opposition nun meint, erfrischend ehrlich. Doch Verstimmungen existieren nun nicht nur mit der Türkei, auch innerhalb der Bundesregierung hängt der Haussegen schief. Doch war es wirklich nur ein Fehler eines Sachbearbeiters?

In einem als „Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuften Teil der ansonsten öffentlich einsehbaren Antwort kommt die Bundesregierung zu deutlichen Beschreibungen der Türkei, bezogen auf die Zeit seit dem Antritt des Kabinetts Erdogan III im Jahr 2011. Ungewohnt deutlich, denn das außenpolitische Standardwerkzeug für den schwierigen Nato-Partner ist eigentlich der diplomatische Teflonhandschuh: kritisieren ja, aber ohne all zu sehr zu provozieren, so die Devise, frei nach dem Motto „Die Bundesregierung verfolgt die innenpolitische Entwicklung in der Türkei aufmerksam und stellt Defizite in einigen Bereichen der Rechtsstaatlichkeit fest.“

Doch hier steht etwas im relativen Klartext, massiv formuliert, ein deutlicher Vorwurf: die AKP-Führung unterstützt die Hamas (öffentlich bekannt), pflegt gute Beziehungen zu den ägyptischen Muslimbrüdern (öffentlich bekannt) und auch mit islamistischen Gruppierungen in Syrien ist sie nicht nur im Gespräch, so die nichtöffentliche Antwort (u. a. Cumhuriyet hatte das berichtet). Allerdings wird eine Unterstützung dieser Gruppen von der türkischen Regierung so aktiv wie vehement bestritten. Die Türkei solle zentrale Aktionsplattform für Islamisten sein, das ist der Hauptvorwurf – was auch immer eine „zentrale Aktionsplattform “ genau sein mag. Klar ist: die Einschätzung kommt nicht vom Innenministerium („Keine Kompetenz“), nicht vom Auswärtigen Amt („Büroversehen“) und damit bleibt nur noch eine Adresse übrig: das Kanzleramt.

Dort wiederum gibt es nur einen Urheber, der wirklich in Frage kommt: der Bundesnachrichtendienst, der dem Kanzleramt unterstellt ist. Niemand sonst hat so handfeste Analysen zu bieten, auch nicht die Abteilung 2 unter Merkels außen- und sicherheitspolitischem Berater Christoph Heusgen (hier für alle alten NATO-Länder zuständig: das Referat 2.11). Und damit ist der BND selbst die ursprünglich die Geheimhaltung bestimmende Stelle… Und nun wird es pikant.

Regelmäßig kommen bei der Beantwortung heiklerer parlamentarischer Anfragen Textbausteine zum Einsatz. Einer, der sich auch in der jetzigen Antwort wiederfindet:

Zwar ist der parlamentarische Informationsanspruch grundsätzlich auf die Beantwortung
gestellter Fragen in der Öffentlichkeit angelegt. Die teilweise Einstufung der Antwort auf die Fragen [..] als Verschlusssache (VS) mit dem Geheimhaltungsgrad „VS – Nur für den Dienstgebrauch“ ist aber im vorliegenden Fall erforderlich.
Nach § 3 Nummer 4 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum materiellen und organisatorischen Schutz von Verschlusssachen (Verschlusssachenanweisung, VSA) sind Informationen, deren Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder nachteilig sein können, entsprechend einzustufen.

Das wirkt auf den ersten Blick sehr wichtig. Allerdings gibt es Behörden und Teile von Ministerien, bei denen fast schon das Toilettenpapier die Klassifizierung „VS-NfD“ trägt – gerade der BND und das Kanzleramt haben hier einen Ruf als notorische Geheimniskrämer. „Nur für den Dienstgebrauch“, das ist die unterste der vier Geheimhaltungsstufen und oftmals einfach gleichbedeutend mit: nichtöffentlich. Dokumente mit NfD-Vermerk werden nicht in Geheimschutzstellen gelagert. Es gibt auch keinen (stark) eingeschränkten Empfängerkreis, eine sogenannte „Sicherheitsüberprüfung“, wie für die höheren Stufen „Vertraulich“, „Geheim“ und „Streng geheim“ ist für die Kenntnisnahme ebenfalls keine Voraussetzung. Kann also eine solch heikle Analyse auf dem gleichen Niveau wie Banalitäten eingestuft sein? Die Antwort gibt das Sicherheitsüberprüfungsgesetz in §4:

(2) Eine Verschlußsache ist
1. STRENG GEHEIM, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden kann,
2. GEHEIM, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden oder ihren Interessen schweren Schaden zufügen kann,
3. VS-VERTRAULICH, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder schädlich sein kann,
4. VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder nachteilig sein kann.

Nur „Nachteilig“? Nicht: Schädlich? Nicht sogar fast schon ein schwerer Schaden? Man kann davon ausgehen, dass das Auswärtige Amt auch hier zu einer anderen Einschätzung gekommen wäre als das Kanzleramt, hier: BND.

Und genau das ist das eigentliche Problem. Man muss, Stand heute, starke Zweifel daran hegen, dass Kanzleramt und das Außenamt am Werderschen Markt tatsächlich an einem Strang ziehen. Kann es sein, dass im Innenministerium, das vor allem aufgrund der sonstigen Fragen federführend die Antwort auf die parlamentarische Anfrage erstellte, die Geduld mit der Türkei erschöpft ist? Könnte es gar sein, dass da die in Oppositionskreisen als „Sicherheitsboygroup“ bezeichneten Akteure in Kanzleramt und Innenministerium eine Nebenaußenpolitik betreiben?

Wenn ja, wäre das verheerend – für die Koalition und das Gefüge innerhalb der Regierung. Wenn nein, dann muss sich nicht nur das Bundesinnenministerium fragen, ob es sich wirklich nur um ein „Büroversehen“ gehandelt hat? Oder nicht doch um das komplette politische Nichtverstehen im eigenen Haus, eine komplette Fehleinschätzung der Brisanz der Analysen aus dem BND und damit einhergehend, dass niemand nachgefragt hat, ob diese Einstufung als „Nur für den Dienstgebrauch“ so richtig sein kann? Immerhin ist es das Bundesinnenministerium, in dessen Geschäftsbereich ein Behördenchef ressortiert, der noch vor gar nicht all zu langer Zeit wegen des all zu freizügigen Umgangs mit Verschlusssachen Journalisten wegen Landesverrats anzeigte. Diplomatisch formuliert dürfte in der Bundesregierung der heute begonnene kritische Dialog noch einige Kapitel zu eröffnen haben.

Kommentare zu diesem Beitrag (3)

  1. Michael Leh | 18. August 2016, 11:29 Uhr

    Wer hat denn verraten?

    Der durchaus interessante Beitrag von Falk Steiner lässt leider die Frage völlig außen vor, wer denn wohl die – immerhin – als VS-nur für den Dienstgebrauch eingestufte Mitteilung an Frau Dagdelen/Die Linksfraktion „durchgestochen“ hat an die Öffentlichkeit. Andere Fraktionen erhielten das Papier erst gar nicht, sondern nur die Fragestellerin, wie es in einem solchen Fall Usus ist. Theoretisch könnte auch jemand aus der Bundestagsstelle, die das Papier auch in die Hand bekam, es „durchgestochen“ haben. Wird Bundestagspräsident Lammert wenigstens formal „ermitteln“, auch wenn es faktisch sicher aussichtslos ist? Auch wenn man es nicht beweisen kann: es spricht für mich alles dafür, dass aus der Linksfraktion rechtswidrig dafür gesorgt wurde, dass das Papier bekannt wird. Wäre das anderes gewesen, wenn die VS höher eingestuft gewesen wäre, wie der Autor es für richtiger hält? Vielleicht, aber ich habe da meine Zweifel.

    • Falk Steiner | 18. August 2016, 12:44 Uhr

      Lieber Herr Leh,

      wer die Antwort „durchgestochen“ hat, ist zum einen kaum zu ermitteln (üblicherweise hat es schon in den Ministerien ein Dutzend Hände gesehen), zum anderen aber auch relativ egal, zumindest für diesen Beitrag. Wenn die Bundesregierung selbst eben keinen Schaden durch ein Bekanntwerden sieht, sondern „nur“ Nachteile befürchtet, dann ist das eine faszinierende Einschätzung, wie man sich gegenüber einem Nato-Partner Türkei verhalten darf…

  2. Michael Leh | 18. August 2016, 13:38 Uhr

    Lieber Herr Steiner,

    ich habe selbst schon geschrieben, dass es faktisch sicher aussichtslos ist ermitteln zu wollen wer das Papier an die Öffentlichkeit gebracht hat. Aber wie ich auch schon schrieb, gehe ich davon aus, dass dies seitens der LINKEN geschah, dafür spricht ja ebenso fast alles. Und es war in jedem Falle rechtswidrig. Das will ich klar festgehalten haben. Auch wenn ich Ihnen durchaus folgen kann, wenn Sie meinen, dass man das hätte vielleicht besser absichern müssen. Die Frage, wie etwas einzustufen ist, unterliegt aber übrigens auch nochmal rechtlichen Kritierien, es kann auch angefochten werden, wenn etwas zu hoch eingestuft ist. Aber mit diesen juristischen Details kenne ich mich nicht genug aus. Es bleibt aber ein Geheimnisverrat, so oder so.