Außenpolitik, Berlin, Bundesregierung, Bundestag, Sicherheitspolitik
NSA-BND / Foto: Arno Burgi/dpa
27.01.2017

„Wir hatten keine Krise.“

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Der NSA-Untersuchungsausschuss will in der kommenden Bundestagssitzungswoche im Februar seine Beweisaufnahme abschließen – mit Kanzlerin Angela Merkel. Was konnte sie über die Praxis im BND wissen? Was hätte sie, die politisch Verantwortliche, wissen müssen? Das zu klären ist ein mühsames Puzzlespiel, wie sich am Donnerstag erneut zeigte.

Es ist ein erstaunlicher Auftritt, den Günter Heiß vor dem Bundestags-Untersuchungsausschuss zur NSA-Affäre absolviert. Heiß, der einst der Klavierlehrer der heutigen Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen war, ist bis heute der Leiter der Abteilung 6 im Bundeskanzleramt. Die ist zuständig für die Dienst- und Fachaufsicht über den Bundesnachrichtendienst. Und Heiß offenbart, wie schlecht er über die Realität im BND informiert war – aber warum? Auch das will er nicht gewusst haben und auch bis heute nicht wirklich wissen.

Vor März 2015 will Günter Heiß nur von Einzelfallproblemen bei den sogenannten Selektoren der NSA gehört haben. Die Selektoren sind das Sieb, das Nachrichtendienste einsetzen, um große Datenströme zu durchforsten. Suchkriterien wie Telefonnummern, Chatnamen, IP-Adressen oder auch schon einmal, so Heiß, chemische Formeln, welche die Abteilung Technische Aufklärung des Bundesnachrichtendienstes für die NSA in Bad Aibling und beim Projekt Eikonal eingesetzt hat, um Datenströme nach Kommunikation zu durchforsten.

Klar ist: der BND hat im Rahmen von Kooperationen jahrelang Selektoren der NSA „gesteuert“, wie es im Nachrichtendienstdeutsch für verwenden heißt, die er kaum hätte steuern dürfen – weil sie gegen deutsche Interessen verstießen. Deutsche Interessen, das ist für den BND: Deutschland. Dass EU und NATO durchaus auch im deutschen Interesse schützenswert sind, das war in der Zentrale in Pullach und der Außenstelle Bad Aibling offenbar ausgeschlossen. Frankreich zum Beispiel gehört zu den Ländern, deren Politik Ziel war, EU-Institutionen wie Auslandsvertretungen des Auswärtigen Dienstes.

Zudem wusste der BND oft einfach nicht, wen und was man da für die NSA ausspioniert. Denn: geprüft wird nicht, ob die Beschreibung – sofern überhaupt vorhanden – der Realität entspricht. Auffallen würde das wohl selbst heute nur, wenn am Ende Inhalte abgefangen worden wären, bei denen den BND-Mitarbeitern mulmig geworden wäre. Das wurde es aber offenbar nur selten. Die einzige technische Sicherung, die der BND eingebaut hatte, war ein Filter: Nur offensichtlich deutsche Ziele wurden aussortiert. Europäische und NATO-Ziele waren hingegen kein Problem für den BND, so wenig wie seit seiner Gründung vor fast 71 Jahren als deutsche Hilfsorganisation des US-Militärgeheimdienstes. Die Dienst- und Fachaufsicht, die die Abteilung 6 des Bundeskanzleramtes ist, will vom Umgang des BND mit den US-Selektoren aber nichts gewusst haben. Aber nicht nur die NSA-Selektoren waren problematisch. Auch in eigener Sache, was die eigenen Selektoren des BND anging, hegte man angeblich keinerlei Misstrauen.

Alle reden über einen Selektor. Alle?

Ende Oktober 2013. Die Koalitionsverhandlungen laufen, die NSA-Affäre schien schon beendet. Der Spiegel hat im Kanzleramt eine Woche vorher um Stellungnahme zu einem Dokument gebeten, das nahelegt, dass ein Mobiltelefon Angela Merkels vom Special Collection Service, einer Spezialeinheit von NSA und CIA, abgehört wurde. Wohl aufgrund der Anfrage und nachfolgend eingeholter Expertise der deutschen Behörden beschwert sich Merkel telefonisch am 23.10. beim US-Präsidenten Barack Obama. Regierungssprecher Steffen Seibert teilt mit: „Sie machte deutlich, dass sie solche Praktiken, wenn sich die Hinweise bewahrheiten sollten, unmissverständlich missbilligt und als völlig inakzeptabel ansieht. Unter engen Freunden und Partnern, wie es die Bundesrepublik Deutschland und die USA seit Jahrzehnten sind, dürfe es solche Überwachung der Kommunikation eines Regierungschefs nicht geben.“ Am nächsten Tag wird Angela Merkel den Satz ‚Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht‘ in die Mikrofone sprechen.

Der damalige BND-Präsident Gerhard Schindler reist am Morgen dieses Folgetages nach Berlin. Es ist Donnerstag, der 24.10.2013. Um 09:30 Uhr trifft sich im Kanzleramt eine Besprechungsrunde. Am Tisch: Kanzleramtsminister Ronald Pofalla, der Staatssekretär für die Nachrichtendienste Klaus-Dieter Fritsche, der BND-Aufsichts-Abteilungsleiter Günter Heiß, der BND-Präsident Gerhard Schindler, der für Spionageabwehr zuständige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen und Regierungssprecher Steffen Seibert. Pofalla meint heute: dabei sei es um eine anstehende Reise in die USA gegangen, um beim ‚No-Spy-Abkommen‘ weiterzukommen. Einwände, Warnungen, dass man sich zum Gespött machen könnte, weil die eigenen Vorwürfe seitens der USA vielleicht als doppelzüngig angesehen werden könnten? Daran will sich keiner der Zeugen erinnern können. Pofalla will sogar nie etwas vom Wort Selektoren gehört haben – obwohl er sich intensiv mit dem vom Spiegel zur Stellungnahme vorgelegten angeblichen Merkelhandy-Datensatz beschäftigt haben will und bis heute sagt, der sei ungewöhnlich, weil darauf das Ziel und die Nummer im Klartext stünden. Auf dem Bild mit dem Datensatz steht das Wort Selektor allein drei Mal.

Noch am gleichen Tag, vor und nach der Sondersitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Nachrichtendienste des Bundestages zum Kanzlerinnenhandy, gab es zwei weitere Runden. Und dort, am Rande, so erinnert es Pofalla, trug der BND-Präsident Schindler ihm und Abteilungsleiter Günter Heiß vor, dass der BND selbst auch Botschaften befreundeter Länder auszuspionieren versuchte, um an Informationen zu gelangen. Am gleichen Tag hatte Schindler einen BND-internen Vermerk vorliegen, der bereits Details enthielt – „700er-Liste“ wird das Dokument auch genannt. Das Dokument, aus dem klar hervorging, dass es keineswegs nur um Botschaften in Krisenländern, sondern um Außenministerien und Parlamente in Europa ging. Im Kanzleramt will man nur gehört haben: Es sei ein Fallbeispiel vorgetragen worden, und es ging um Botschaften befreundeter Länder in Krisengebieten, die eben über Expertise verfügten, über die man selbst nicht verfügte. Abteilungsleiter Günther Heiß: „Wir haben nicht nach Ministerien gefragt. Wir haben das Beispiel akzeptiert, dass EU- und NATO-Staaten überwacht wurden und wir haben angewiesen, das abzustellen.“

Später am Abend wird der einstige Kanzleramtsminister Ronald Pofalla aussagen, er habe bei dem Treffen zudem einen Bericht zur Umsetzung dieser Weisung von Gerhard Schindler verlangt. Bis er im Dezember 2013 aus dem Amt schied, sei dieser aber nicht mehr eingegangen. Weder Schindler noch Heiß können sich an die Berichtsanforderung erinnern, Schindler in der Vorwoche, Heiß direkt vor ihm. Pofalla weiß aber zu erinnern, dass Berichte, die angefordert wurden, auch stets kamen. Denn: „Das Kanzleramt halte ich für die bestorganisierteste Behörde, die ich in meinem Leben je gesehen habe.“ Ronald Pofalla arbeitet seit 2014 als Vorstand für Infrastruktur bei der Deutschen Bahn.

„Tiefgehendes technisches Verständnis, das hatten wir nicht.“

Der Ex-Kanzleramtsminister nimmt die Arbeit des Untersuchungsausschusses zwar offenbar ernst genug, um mit seiner Aussage bloß keinen politischen Schaden anzurichten. Er habe die Kanzlerin nicht über die eigene Spionagepraxis informiert, schließlich sei der Bericht noch nicht dagewesen. Und er habe halt immer erst informiert, wenn er sich umfassend informiert fühlte.
Pofalla will aber an diesem Abend im Untersuchungsausschuss ganz offensichtlich vor allem eines: Nichts mehr damit zu tun haben. Er ist zum zweiten Mal da, genervt, liefert sich wie einst als Abgeordneter scharfe Wortduelle mit den Abgeordneten. Teils verbeißen sie sich fast ineinander. Es ist kurz vor 20 Uhr, Pofalla sitzt mit verschränkten Armen auf dem Zeugenplatz, genervt von den Fragen, von Wiederholungen, geradezu patzig. Die SPD-Politikerin Susanne Mittag fordert ihn auf, etwas nochmal nachzuschauen. Er ziert sich offensichtlich, der Aufforderung Folge zu leisten, sagt aber: „Soll ich’s nochmal nachgucken…?“ Kunstpause. „Ich mach‘s aber gerne für Sie.“ Susanne Mittag sagt: „Das ist nett.“ Ronald Pofalla: „Ich bin ein netter Mensch.“ Dass das nicht alle Abgeordneten uneingeschränkt teilen, wird durch Gelächter deutlich.

Später sagt er, er habe heute ein anderes Leben, einen anderen Job. Er bestreite nicht, damals nicht alles gewusst zu haben. Für damals gelte wie für den Ausschuss heute: „Ich nehme für mich in Anspruch, dass ich alles, was ich tun konnte, aufgeklärt habe, bis ich aus dem Amt ausgeschieden bin.“ Im Herbst 2013 sei er aber vor allem mit den Koalitionsverhandlungen beschäftigt gewesen.
Die bestorganisierteste Behörde, die Pofalla jemals in seinem Leben gesehen hat, war nicht nur 2013 blind für das, was im BND tatsächlich passierte. Was besonders deshalb erstaunlich ist, weil ein großer Teil der Mitarbeiter in der zuständigen Abteilung 6 selbst zumindest zeitweise im Bundesnachrichtendienst gearbeitet hat. „Wirklich tiefgehendes technisches Verständnis, das hatten wir nicht“, berichtet Abteilungsleiter Günter Heiß dem Ausschuss. Aber was die Abteilung Technische Aufklärung mit ihren über 3.000 Mitarbeitern tatsächlich tut, ist offensichtlich nur mit technischem Verständnis möglich. Heute sei alles besser, berichtet Heiß. Es gebe jetzt auch technisches Know How in seiner Abteilung im Kanzleramt.

In der Realität blieb die „Aufsicht“ des Kanzleramtes auch nach dem Oktober 2013 nur „auf Sicht“. Erst im März 2015 will man durch die Erwähnung des Wortes „Quarantäneliste“ Verdacht geschöpft haben, dass es beim BND vielleicht doch größere Mengen Selektoren geben könnte, die der BND gar nicht hätte einsetzen dürfen und sollen. Der Begriff soll, so Heiß, bei einem BND-Besuch des im Dezember 2013 als Nachfolger von Ronald Pofalla ins Amt des Kanzleramtsministers gekommenen Peter Altmaier in Pullach gefallen sein. Was folgte ist öffentlich aktenkundig: öffentlich attestierte das Kanzleramt dem BND „technische und organisatorische Defizite“. Ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik.

Auch als die NSA-Selektoren für strukturell problematisch gesehen wurden, sah man im Kanzleramt keinen direkten Zusammenhang zur Vorgehensweise des BND. Denn, so Heiß: der BND sei nicht die NSA. Das ist zwar richtig, aber im BND selbst hatte man – Zufall oder nicht – bereits vor den Snowdenveröffentlichungen mit ersten Bereinigungen der Selektorendatenbanken begonnen. Denn so ganz geheuer waren die eigenen Selektoren den eigenen Signalüberwachern offenbar nicht.

Aber damals, nach Snowden, im Jahr 2013, da ist sich Heiß sicher: „Wir hatten keine Krise.“ Personelle Konsequenzen in der Abteilung 6, im Kanzleramt oder im BND seien ihm nicht bekannt, sagt Heiß. Die Demission des BND-Präsidenten Schindler im Frühjahr 2016 sei ohne Angabe von Gründen erfolgt. Ronald Pofalla sagt auf den Vorhalt, ob ihm nie die Frage gekommen sei, ob der BND die Kanzlerin nicht vielleicht sogar selbst als Ziel in seinen Datenbanken habe: „Nicht eine Sekunde.“ Gezielte Fragen, nach welchen Kriterien der BND selbst arbeitet, die erfolgten nicht. Und den Bericht, an dessen Anforderung sich nur Pofalla erinnern kann, den gibt es bei den Ausschussunterlagen nicht. Philipp Wolff, Vertreter des Kanzleramtes im Bundestagsuntersuchungsausschuss, sagt auf Nachfrage der Parlamentarier, dass, wenn es ihn geben würde, er davon ausgehe, dass dieser bei den Akten wäre. Wenn gerade kein Untersuchungsausschuss zum BND tagt, arbeitet Wolff im Kanzleramt in der Abteilung 6: Fach-, Dienst- und Rechtsaufsicht über den Bundesnachrichtendienst.


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