Brüssel, EU-Kommission, Europäischer Rat, Europaparlament
Datenkabel © European Union 2013
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17.03.2015

„Taliban“ für die Netzneutralität

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Der Digital-Kommissar und der EU-Ministerrat sind gut für Wundertüten: Ihr aktuelles Beschlusspapier zur Regelung des offenen Netzes in Europa hätte einen ganz verblüffenden Effekt – es würde das offene Netz abschaffen. Doch Günther Oettinger sieht die Gefahren ganz wo anders: Bei den „Piraten“ des Webs – die nämlich fordern Netzneutralität. Über diese „talibanartigen Entwicklungen“ kann unsere Korrespondentin Simone Miller nur den Kopf schütteln.

Netzneutralität könne töten und die böse Internetgemeinde nehme das in Kauf. Mit Äußerungen wie diesen wirbt unser aller Digitalkommissar Günther Oettinger für den aktuellen Entwurf des EU-Ministerrats zur europaweiten Regelung der Netzneutralität.

 

(Günther Oettinger in einer Diskussionsrunde zur Reihe „BMF im Dialog“ beim Bundesfinanzministerium zum Thema Netzneutralität am 06. März 2015)

Keine Rede mehr von Spezialdiensten

Was ist also dran an den Sorgen des Herrn Oettinger? Würde die Gleichbehandlung von Daten bei der Übertragung im Netz – die Netzneutralität also ohne jede Ausnahme gelten, dann könnte sie in Zukunft tatsächlich tödliche Folgen haben: Zum Beispiel für die Autofahrerin, deren selbstfahrendes Auto wegen Übertragungsverzögerungen nicht rechtzeitig ausweicht. Oder dann, wenn die Datenübertragung in Echtzeit während einer ferngesteuerten Operation versagt.
Aber Herr Oettinger braucht sich nicht zu grämen, denn: Niemand wollte je verhindern, dass Dienste wie die Telemedizin auf einer „Überholspur im Netz“ besonders behandelt werden – auch nicht die Verfechter von Netzneutralität.
Der Internetkommissar muss da etwas falsch verstanden haben: Was die Befürworter der Netzneutralität fordern, ist eine klare und scharf abgegrenzte Definition von solchen „Spezialdiensten“, wie eben der Telemedizin. Sie wollen damit bezwecken, dass nur solche Leistungen bevorzugt behandelt werden, deren Vorrang auch gut begründet ist. Dafür hatte sich Günther Oettinger Anfang des Jahres auch noch ausgesprochen.

Das aber scheint er vergessen zu haben. Das neue Positionspapier der Kommission und des EU-Ministerrats hat den Begriff „Spezialdienst“ einfach ganz weg gelassen. Geschickt: Dann muss man ihn ja auch nicht definieren. Genau das will das Papier auch nicht. Denn künftig soll mit Vorrang behandelt werden, wer es sich leisten kann. Rat und Kommission sprechen sich dafür aus, dass Netzanbieter in Zukunft mit den Providern eigene Verträge aushandeln können. Das heißt, prominente Diensteanbieter – wie zum Beispiel Youtube, Amazon, Netflix und viele mehr – können sich dann gegen Bezahlung von den Providern bevorzugt behandeln lassen. Will Otto-Normalverbraucher dann seine Lieblingsdienste weiterhin in hoher Qualität nutzen, muss auch er bei den Providern ein seinen Interessen entsprechendes Paket kaufen – ähnlich wie heute auf dem Mobilfunkmarkt.

Genau damit aber wäre der Grundsatz der Netzneutralität ausgehebelt. Denn Daten würden nicht mehr unabhängig ihres Absenders, Empfängers oder Inhalts in gleicher Qualität und Geschwindigkeit von den Providern weitergeleitet. Wo heute alle Anbieter und Nutzer gleich behandelt werden, würde dann also der Geldbeutel entscheiden. Das bereits wäre ein bedauerliches Ende der Geschichte. Sie geht aber leider noch weiter.

Türöffner für Deep Packet Inspection

Sollten Daten künftig nicht mehr gleich behandelt werden, dann müssten die Provider ja auch wissen, welches Datenpaket sie wie behandeln müssen. Anders als bisher sieht das neue Papier kein Verbot der „Deep Packet Inspection“ mehr vor. Das heißt, Providern wäre es dann erlaubt, die einzelnen Datenpäckchen aufzuschnüren und die enthaltenen Daten genau zu identifizieren. Datenanonymität wäre also nicht mehr gegeben.

Bemerkenswert ist noch ein weiteres Detail der Beschlusslage: Es gibt Ausnahmen, die sogenannte „Netzsperren“ ermöglichen – also das Blockieren oder Drosseln bestimmter Inhalte. Blockieren dürften Provider dann zum Beispiel, wenn eine gesetzliche, gerichtliche oder behördliche Anordnung vorliegt. Auf diese Weise könnte die EU oder deren Mitgliedsstaaten im Verbund mit den Providern bestimmte Seiten und Inhalte blockieren – ohne vorher einen richterlichen Beschluss einzuholen. Selbst Journalisten könnten die entsprechenden Inhalte zur Berichterstattung dann nicht mehr einsehen.

Von den USA lernen

An dieser Stelle kann die Geschichte mit dem Hinweis beschlossen werden, dass ihre Fortsetzung folgt und die Hoffnung noch längst nicht gestorben ist. Die Position der Kommission und des Rats widerspricht nämlich derjenigen des EU-Parlaments.

 

EU-Abgeordnete fordern Netzneutralität: Nikos Chrysogelos und Helga Trüpel © European Union 2014 - Source EP

EU-Abgeordnete fordern Netzneutralität: Nikos Chrysogelos und Helga Trüpel © European Union 2014 – Source EP

Das EU-Parlament hatte im November mit großer Mehrheit ein Positionspapier verabschiedet, das sich zu den Grundsätzen der Netzneutralität bekennt. Dass es von dieser Position nicht abweichen wird, dazu hat sich das Parlament erst letzte Woche noch einmal bekannt.

An dieser Stelle sollten die Befürworter der Netzneutralität ihre Lehren aus den USA ziehen: Auch dort hatte die Telekommunikationsaufsicht FCC die Aushöhlung der Netzneutralität geplant. Öffentlicher Protest von Seiten der Zivilgesellschaft, einer ganzen Reihe von Unternehmen und Politiker haben aber bewirkt, dass die FCC letztlich die bislang schärfsten Vorschriften zur Sicherung von Netzneutralität verhängt hat.

Wenn die Geschichte um die Netzneutralität auch in Europa ein Happy End haben soll, dann wäre es jetzt an der Zeit, das Thema vom Nerd-Label zu befreien und eine größere, kritisch-informierte Öffentlichkeit herzustellen. In der Hoffnung, dass die „talibanartigen Entwicklungen“ in Deutschland und Europa noch weiter an Auftrieb gewinnen und dem EU-Parlament in den Trilog-Verhandlungen den Rücken stärken.