Berlin, Bundesregierung, Digitalpolitik, Parteien
Schon etwas her: die Piraten als Treiber der Digitalpolitik
Schon etwas her: die Piraten als Treiber der Digitalpolitik
25.05.2016

Digitalpolitik: Zwischen PR-Gewäsch und Großlage

Von

Große Worte fanden Angela Merkel und Sigmar Gabriel zum Abschluss der Kabinettsklausur in Meseberg: die Zukunft Deutschlands hänge von der Digitalisierung ab, es sei eines der beiden – zusammen mit der Integration – gesellschaftlichen Zukunftsthemen. Das ist im Kern zwar vielleicht richtig, aber…

Deutschland Ende Mai 2016. Das Bundeskabinett beschäftigt sich einen halben Tag lang mit der digitalen Zukunft der Republik. Zu Gast: EU-Digitalkommissar Günther Oettinger und der estnische Premier Taavi Rõivas. Während Oettinger derzeit an einer Vielzahl politischer Großbaustellen arbeitet, ist das kleine baltische Estland das Vorzeigeland was digitale Verwaltung, aber auch, was digitale Verwundbarkeit angeht.

In Estland wird Digitalisierung auch für die öffentliche Verwaltung, auch für das Verhältnis Staat zu Bürger als Chance gesehen, und nicht gleich die Risiken betrachtet.

Der Bundesinnenminister Thomas de Maizière ist ganz begeistert, auch wenn nicht alles auf Deutschland übertragbar sei – weil da ja noch der Föderalismus ist, Deutschland größer und überhaupt. Auch die Kanzlerin zeigt sich beeindruckt von dem, was in Estland möglich ist. Dort gibt es eine zentrale Adressdatenbank, die allen Ämtern zur Verfügung steht und rechtssichere digitale Kommunikation mit der Verwaltung ist eine selbstverständliche Möglichkeit.

Die Arbeitsministerin Andrea Nahles kündigt ein sogenanntes Weißbuch zu „Arbeiten 4.0“ an. Es soll die Herausforderungen für die Arbeitswelt, für Berufsqualifizierung, für das Mensch-Maschine-Verhältnis in konkrete politische Vorhaben und Fragestellungen übersetzen.

Der Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, nebenbei auch SPD-Vorsitzender, Vizekanzler und Kanzlerkandidaturerwartungsmanager, spricht zum Abschluss davon, dass die Digitalisierung über die Zukunft des Industriestandortes Deutschland entscheide – und das deutsche „Industrie 4.0“ sei bereits ein Wort in anderen Sprachräumen geworden…

Rückblende

Es ist der 20. August 2014, im großen blauen Saal der Bundespressekonferenz sitzen Sigmar Gabriel, Alexander Dobrindt und Thomas de Maizière. Sie stellen vor: die Digitale Agenda der Bundesregierung 2014-2017.

..dass wir in der digitalen Agenda auf alle Fragen bereits abschließende Antworten haben, nicht mal, dass alle Antworten, die wir geben, richtig sind.

Sigmar Gabriel muss sich die grundsätzliche Digitalzuständigkeit teilen, mit Alexander Dobrindt, zuständig für die digitale Infrastruktur und Thomas de Maizière, zuständig für Sicherheit, Datenschutz, Verwaltung und diverse andere Digitalthemen. Ein Jahr ist da die Bundestagswahl fast her, drei Monate hat die große Koalition gebraucht, um sich zu finden – in Form eines Koalitionsvertrages, dem alle drei Parteien zustimmen konnten. Ein Teil davon: digitale Vorhaben.

Einen speziellen Digitalminister wollte man nicht, alle Koalitionsparteien wollten irgendwie mitreden können. Nicht besonders ambitioniert wirkte die Digitale Agenda, aber doch zumindest motiviert, nicht zuletzt von der da noch heißen Debatte um die Berichte, die auf Edward Snowdens NSA-Fundus zurückgehen.

Fast zwei Jahre später

Geradezu Mausetot wirkt das Online-Angebot der Bundesregierung zum Mitdiskutieren rund um die Digitale Agenda. Und würde man eine Checkliste durchgehen, was seitdem passiert ist, dann kann man sagen: ja, in viele Punkte ist langsam etwas Bewegung gekommen. Aber spät – oft zu spät für diese Legislaturperiode.

Selbst relative Banalitäten der Chancen der Digitalisierung – um im Bild von Thomas de Maizière unter dem Eindruck des estnischen Vorbilds zu bleiben – wie eine bereits im Koalitionsvertrag getroffene Vereinbarung zur WLAN-Störerhaftung, die tatsächlich eine Verbesserung bedeutet, wird erst in der kommenden Woche durch den Bundestag gehen. Nachdem das Kabinett – unter Federführung von Gabriels Wirtschaftsministerium – praxisfernen Murks aus Angst vor den Risiken verabschiedete, nicht zuletzt auf Wunsch des Innenministeriums, mussten die Fachpolitiker der großen Koalition das Vorhaben im Bundestag updaten. Ein Trauerspiel 95, oder gar 3.11…

Gedauert hat auch das, was Alexander Dobrindt (CSU) zu verantworten hatte: Breitbandausbau. Da geht es jetzt voran, aber die Formulierung „Vorfahrt für Glasfaser“, die er nun offensiv nutzt, die wäre schon 2014 richtig gewesen. Da aber tat man sich aufgrund der hohen Kosten – es geht um dutzende Milliarden Euro Investitionen – noch schwer, blockte ab und hoffte, dass das Ausquetschen der vorhandenen Kupferleitungen mit Brückentechnologien wie Vectoring doch ausreichen würde. Weshalb auch diese Technologie nach wie vor förderfähig ist.

Dass sich der Verkehrsminister schon deutlich früher bei Fragen des teil- und hochautomatisierten oder gar vollautonomen Fahrens auf den Weg machte, und dieser einfach lang ist, tröstet da nur begrenzt – vor allem, wenn man an solche Bonmots denkt, wie das, was Dobrindt in Meseberg am Dienstagabend lieferte: Sachschäden vor Personenschäden, das will er den Algorithmen vorschreiben. Was das aber künftig für Rollstühle und Kinderwägen inklusive ihrer „Passagiere“ heißen wird, darüber sollte man im BMVI nochmal nachdenken…

Aber immerhin ist seine Digital-Bilanz deutlich konkreter als das, was Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) als eine maßgebliche Erkenntnis vortragen konnte:

Die Veränderung wird nicht alles über den Haufen werfen, aber sie wird doch auch von uns auf der politischen Ebene eine sehr kluge Gestaltungspolitik verlangen und das haben wir hier heute intensiv diskutiert und machen uns da auch auf den Weg.

Bald zwei Jahre nach der Digitalen Agenda hat Nahles damit ihr Weißbuch zu „Arbeiten 4.0“ für den November ankündigt. Umsetzung von irgendetwas daraus in dieser Legislaturperiode: geradezu ausgeschlossen.

Es wäre viel gewonnen, wenn tatsächlich das gesamte Kabinett in Meseberg verstanden hätte, welche gewaltigen Umbrüche die Digitalisierung mit sich bringt. Dass es nicht reicht, darüber zu reden, sondern konkrete Entscheidungen tatsächlich angeht, und nicht nur in abstrakten Strategiepapieren, Weißbüchern und Weißnochnichtsogenaubüchern darüber räsoniert.

Zukunftsthema, auch für die anderen?

Strategisch ist die offensive Besetzung des Themas Digitalpolitik vielleicht sogar klug gewählt: bei Grünen und Linken fristet es – jenseits aller Beteuerungen – ein relatives Orchideendasein. Bei der AfD ist die Digitalpolitik etwa so relevant wie die Sportpolitik und entsprechend dünn (z. B. die Forderung nach dem Einsatz quelloffener Hard- und Software in der Verwaltung oder die Binse „Schnelles Internet für alle ist in jedem Fall anzustreben“) oder gar im Lichte der Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung randständig formuliert:

Das Recht auf informelle Selbstbestimmung ist für uns ein wichtiges Gut. Die Grundsätze des Datenschutzes müssen gewährleistet werden. Gleichwohl ist zu überprüfen, ob die Sicherheit der Bürger sowie von Wirtschaft und Industrie vor Spionage bei dieser Frage angemessen berücksichtigt wird. Im Zweifel ist das Recht der Bürger auf Sicherheit höher zu bewerten als das eines Straftäters auf informationelle Selbstbestimmung. Bei der Implementierung von Datenschutzmaßnahmen ist immer der Mehraufwand für die Ermittlungspersonen und die Justiz zu berücksichtigen und sinnvoll abzuwägen. Ziel muss es sein, die Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bürger zu verbessern.

Zitate aus dem Leitantrag zum Grundsatzprogramm des AfD-Bundesvorstandes und der AfD-Programmkommission, in dem das Wort Internet zwei Mal auf 74 Seiten steht, Digitalisierung sieben mal (inkl. Überschriften und Inhaltsverzeichnis). Ob das alles auch ins finale Programm übernommen wurde, lässt sich leider nicht so leicht sagen: auch fast vier Wochen nach dem Parteitag hat die AfD es nicht geschafft, ihr tatsächlich beschlossenes Programm zu veröffentlichen. Ob es daran liegt, dass die Maus hakt, ist nicht bekannt.

Aber ein wenig müssen wohl auch wir Journalisten und vielleicht auch die Bürger sich fragen: selbst wenn der Eindruck sich aufdrängt, dass die Bundesregierung hier PR betreibt – müssten nicht auch wir alle viel mehr Fragen dazu stellen, tiefer in die Materie gehen und einfordern, dass Politik qualifiziert Antworten liefert? Müssten wir nicht genauer schauen, was unter dem dick aufgetragenenen Lack 4.0 tatsächlich an politischen Aufgaben und Lösungsansätzen dafür zu diskutieren wäre? Ich fürchte: ja. Aber morgen, da hab ich frei.

Kommentare zu diesem Beitrag (1)

  1. Alisa M. | 27. Mai 2016, 22:23 Uhr

    Danke

    Sehr geehrter Herr Steiner,

    Sie sind einer der wenigen Journalisten, derentwegen ich den Deutschlandfunk noch höre. Machen Sie weiter so! Vielen Dank.

    A.M.